U2-Frontmann Bono stellte am 23. November 2022 im Berliner Admiralspalast seine Memoiren Surrender vor — und das mit einer famosen und erinnerungswürdigen Performance.
von Markus Brandstetter
Es ist ganz egal, ob Bono mit U2 in den größten Stadien der Welt spielt oder in viel kleinere Venues zur Erzählstunde lädt – es geht um dasselbe. Nämlich um Liebe und Erlösung, um Tod, Vergebung und Selbstwerdung, um Gott und Rock’n’Roll — und natürlich um diese gleichermaßen megalomanischen und wundervollen Leuchttürme von Songs, die er gemeinsam mit seinen Bandkollegen The Edge, Adam Clayton und Larry Mullen Jr. erschaffen hat. Einige davon wird es an diesem Abend zu hören geben, mit Harfe, Cello und Elektronik statt E-Gitarre, E-Bass und Schlagzeug. Gewidmet ist der Abend, genau wie auch das Buch, seiner Ehefrau Ali Hewson. Die ist an dem Abend, das erzählt der 62-Jährige gegen Ende seiner Performance, gemeinsam mit Tochter Jordan im Publikum.
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Die Bonowerdung des Paul David Hewson
Heute geht es aber sogar noch um mehr — und zwar um Bonos Bonowerdung, die so einiges mit der Geschichte von Orpheus und Eurydike zu tun hat. Nachzulesen auch, das jetzt bitte mit irischem Akzent denken, in „me book that I wrote all by meself“, wie er mehrfach an diesem Abend sagt. Auf zwei Leinwänden wird die Geschichte von Paul David Hewson, geboren am 10. Mai 1960 in Dublin, mit weißem, digitalem Stift von Skizzen umrissen. Es erscheinen Häuser, Orte und Personen, nur minimal detaillierter gezeichnet als Strichmännchen. Dazu erzählt Bono von seiner Kindheit und dem frühen Tod seiner Mutter Iris, der ein Loch in die Familie riss — ein Loch, das die verbliebenen Hewson-Männer mit Isolation, Schweigen, passiver Aggression und dem Nichtreden über die Mutter zu füllen versuchten.
Er erinnert sich daran, wie er innerhalb nur einer Woche seine Band und seine Frau kennenlernte. Wie U2 erstmals in der Küche von Larry Mullen Jr. probten. Jedes U2-Bandmitglied wird mit einem leeren Sessel repräsentiert, über jedes Bandmitglied erzählt er einige Anekdoten. Wie The Edge nicht einfach Dave Evans bleiben konnte und wie seine Explorer seiner Gesichtsform ähnelt. Wie Larry Mullen Jr. den Raum mit allumfassender Skepsis füllen kann. Wie der elegante Adam Clayton der Bassist von U2 werden musste, obwohl er gar nicht Bass spielen konnte. Bono spricht mit großer Zuneigung von seinen Kollegen, die ihm — so der Sänger — die Erlaubnis für dieses Solo-Abenteuer gegeben haben. Manchmal unterlegt seine Begleitband (Gemma Doherty an der Harfe, Kate Ellis am Cello, Jackknife Lee an Keys/Elektronik) das an diesem Abend mit sphärischen Scores, an anderen Stellen legen sie das Fundament von U2-Songs, in die Bono später einstimmt. Teilweise passiert das nur fragmentarisch und als Rezitativ wie bei Iris, andere Lieder singt er zur Gänze oder zumindest zu großen Teilen. City Of Blinding Lights etwa vom 2004er-Longplayer How To Dismantle An Atomic Bomb, I Will Follow, Pride (In The Name Of Love) oder Sunday Bloody Sunday. Das Publikum kommt an diesem Abend außerdem auch in den Genuss von With Or Without You, Where The Streets Have No Name sowie Desire.
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Bonos Soloperformance: Ein großartiges Erlebnis
Es ist ein absolutes Erlebnis, Bono in einem so kleinen, intimen Rahmen erleben zu dürfen. Natürlich, das Sicherheitspersonal ist an diesem Abend etwas zahlreicher vorhanden als bei den meisten anderen Auftritten im Admiralspalast, wir haben es hier schließlich mit einem der größten Rockstars unserer Zeit zu tun. Der ist übrigens ganz wunderbar bei Stimme — und in einem solchen Rahmen sind auch ihre Nuancen, ihre Vielfältigkeit und auch ihre Schwere wunderschön hörbar.
Gelesen wird an diesem Abend nichts. Es ist ein Theaterstück, das Bono aufführt. Theatralik beherrscht er perfekt, ebenso wie den ironischen Umgang mit sich selbst, seinen Kämpfen und Motiven. Bono wechselt von leichten zu schweren Themen, vom Proberaum zum Sterbebett der Eltern, vom wiederkehrenden, grandiosen Pub-Gesprächen mit dem Vater zum Auftritt bei Live Aid. Nicht nur Ali und Iris, auch sein 2001 verstorbener Vater Brendan Robert Hewson ist eine der zentralen Figuren des Abends. Bono spielt immer wieder die Gespräche zwischen den beiden nach, erinnert sich, wie er um die Akzeptanz des Vaters ringt, die er allerdings nur wohldosiert zu spüren bekommt — und wo er ist, wird es natürlich gelegentlich auch sakral. Über Jesus singen ist nicht Rock’n’Roll? Vielleicht es das aber doch, meint Bono. Er erzählt auch, wie sich die Band einer katholischen Sekte anschloss, die sie fast zur Auflösung gebracht hatte — einzig eine nüchterne Intervention von Manager Paul McGuinness hatte dies verhindert. Surrender, das bedeutet Hingabe, aber auch Kapitulation. Sich ergeben. Er lernt dies jeden Tag aufs Neue. Das Auf- und Hingeben seiner Frau, seinen Bandkollegen, seinem Schöpfer gegenüber.
Eines der Kernthemen in Bonos Arbeit ist natürlich auch die Frage, wie Rock’n’Roll die Welt verändern kann. Er erzählt von seiner Wohltätigkeitsarbeit, vom Kampf gegen AIDS und gegen die Armut. Er bedankt sich bei Deutschland für die finanziell tatkräftige Unterstützung, nennt Geldsummen. Armut ist nichts Natürliches, sondern etwas Menschengemachtes, sagt er. Zwei Stunden später verabschiedet sich Bono, zuerst mit Verbeugungen, dann mit der gestreckten Faust. Zuvor hatte er als letztes Stück das neapolitanische Lied Torna A Surriento gesungen, eine Erinnerung an seinen Vater, nach dessen Tod sich Bonos Stimme, die Geschichte kennen wir ja bereits, vom Bariton zum Tenor entwickelte. Es ist nicht das erste Mal an diesem Abend, dass es ihm das Publikum mit Standing Ovations dankt. Sagenhafter Abend.
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