2006 - Was für ein Jahr: Facebook kannte noch keiner, aber MySpace war das große Ding. Das iPhone schlummerte noch als Prototyp in Steve Jobs‘ Schreibtisch, Kapitän Jack Sparrow fluchte zum zweiten Mal auf der Leinwand, und bei der Fußball-Weltmeisterschaft feierte ganz Deutschland kollektiv das vielzitierte „Sommermärchen“. Ihre eigene, aber mindestens genauso überraschende Geschichte schreiben im gleichen Jahr die amerikanische Thrash Metal-Legenden Slayer mit ihrem zehnten Album Christ Illusion.
Es gibt kaum eine andere Band auf diesem Erdball, die so sehr für kompromisslos umgesetzte musikalische Härte steht wie das 1983 in Los Angeles gegründete Quartett. Langgezogene „Slayer“-Rufe gehören zur Festival-Landschaft wie lauwarmes Dosenbier, egal, ob die Band spielt oder nicht. Alleine das liefert einen kleinen Hinweis darauf, wie sehr Slayer mittlerweile im kollektiven Rockbewusstsein auch jenseits der extrem harten Klänge verankert sind. Doch selbst die treuen Fans zeigten sich vor Christ Illusion verunsichert, hatten es ihre Helden Mitte der Neunziger doch tatsächlich gewagt, mal mehr, mal weniger modernere Elemente in ihren Songs zuzulassen. Die erzkonservative Metal-Szene reagierte geschockt.
Auf dem Slayer-Brecher God Hates Us All von 2001 treten diese ungewohnten Sounds zwar zusehends in den Hintergrund, doch erst mit der Rückkehr des Ur-Schlagzeugers Dave Lombardo bringen Sänger/Bassist Tom Araya sowie das Gitarrendoppel Kerry King und Jeff Hanneman das Schiff endgültig wieder auf Kurs. Die Wiedervereinigung der legendären Besetzung, die Klassiker wie Reign in Blood und Seasons In The Abyss eingeprügelt hatte, macht Hoffnung auf eine endgültige Rückkehr zum liebgewonnenen Gemetzel-Style und steigerte die Erwartungen deutlich.
Und Christ Illusion enttäuscht nicht. Die Scheibe entpuppt sich als pures, aber nicht zwingend puristisches Slayer-Album, das zwischen den finalen Zuckungen des Nu-Metal und Retortenkünstlern aus Castingshows wie die vielzitierte Bombe detoniert. Ein wunderschöner Hassbolzen eben, Lebensfreude durch herrliches Geprügel.
Schon der angepeilte Veröffentlichungstermin war in Sachen Boshaftigkeit nicht zu übertreffen: Dass sich die für ihre religionskritischen Texte bekannte Combo den 6. Juni 2006 („666“, die biblische Zahl des Teufels!) entgehen lassen würde, stand nicht zur Debatte. Leider schiebt eine spontane Operation an Tom Arayas Gallenblase im Mai 2006 diesem Unterfangen einen Riegel vor. Trotzdem entwickelt der Termin als lautstark zelebrierter „International Slayer Day“ eine unterhaltsame Eigendynamik. Morgens in der rappelvollen U-Bahn einfach mal „Slayer“ zu brüllen, gilt spätestens seit diesem Tag als gesellschaftlich akzeptiert. Zugegeben: Das Ergebnis könnte auch von der unmittelbaren Umgebung abhängen. Eine angenehme Abwechslung zum seinerzeit wegen Fußball-WM dominierenden „Schlaaand“-Einerlei war es sowieso.
Anfang August steht Christ Illusion dann in den Läden, begleitet von diversen „Nebengeräuschen“: So fühlen sich in Indien gleich mehrere Religionsgruppen auf den Schlips getreten, weswegen dort sämtliche Exemplare der Scheibe eingesammelt und zerstört werden. Der Song ‘Jihad’ sorgt aufgrund seines Textes aus der Sicht eines Terroristen ebenfalls für Empörung und wird in der Folge heiß, aber mit einem Sieg für die künstlerische Freiheit debattiert.
Völlig außerhalb jeglicher Diskussion steht hingegen die musikalische Leistung: Auf der Platte zeigen Slayer in knapp vierzig Minuten und zehn Songs einen Stil, der auch ihr aktuelles Erfolgsalbum Repentless befeuert, mit tiefergestimmten Riffs und aggressivem Groove. Richtig gelesen: Groove. Für den ist auf Christ Illusion Rückkehrer Lombardo zuständig, dessen manisches, aber akzentuiertes Drumming die Riffmaschine hörbar antreibt. Mit dem eher im mittleren Geschwindigkeitsbereich angesiedelten Eyes Of The Insane gewinnen Slayer 2007 sogar ihren ersten Grammy in der Kategorie „Best Metal Performance“, ein Jahr später wiederholen sie dieses Kunststück mit Final Six – genau dem Song, den Araya wegen seiner Gallenblase damals nicht mehr pünktlich fertigstellen konnte.
Schau dir hier das Musikvideo zu Eyes Of The Insane an:
Gitarrist Kerry King sieht das alles übrigens ganz pragmatisch: Der Preis an sich sei ihm völlig schnurz, erklärt er später, aber dass er seinen Eltern das Ding nach Hause bringen konnte, bedeute ihm sehr viel. Man sieht: Da kann einer noch so viel von Tod und Teufel singen, wenn es um Mutti geht, wird auch der härteste Metaller weich.
2006 mag nicht als das stärkste Jahr des Heavy Metal in Erinnerung bleiben, aber Slayer haben mit „Christ Illusion“ einen ebenso überraschenden wie unbestrittenen Höhepunkt abgeliefert. Eine Wiederentdeckung lohnt sich.
Und jetzt alle: Slayyyeeeeer!!!!