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Der historische Verriss: "Exile on Main St." von den Rolling Stones

Nicht wenige halten Exile on Main St. für das beste aller Rolling Stones-Alben, und längst gilt es als eines der großen Meisterwerke der Rockmusik. Dabei wurde das Doppelalbum seinerzeit von der Kritik gnadenlos verrissen.

Zum Beispiel im Rolling Stone. Schon damals galt das US-Magazin als oberste Instanz in Sachen Rockkritik. Lenny Kaye, einer der bekanntesten Schreiber des Blattes (und bis heute Gitarrist der Patti Smith Band), erschienen die vier Plattenseiten von Exile on Main St. als ein „verwirrender Dschungel“. Sein enttäuschtes Urteil: „Sie haben sich nicht allzu weit von zu Hause entfernt, ihre Komfortzone nicht verlassen und nur das getan, was ihrem Naturell entspricht.“ Kayes Fazit: „Ich denke, das ganz große Stones-Album ihrer gereiften Periode steht noch aus. Hoffentlich. Exile on Main St. wird ihnen die solide Ausgangsbasis verschaffen, die sie brauchen, um sich zu öffnen. Sollten sie ihren Horizont ein wenig erweitern (zwei Monate on the road wären vielleicht hilfreich), dann sollten sie es uns sogar schon beim nächsten Mal liefern.


Hör hier in Exile On Main St. rein:

Für das ganze Album klickt auf „Listen“.

Noch deutlicher wird die Enttäuschung der Fachpresse im vernichtenden Urteil, das Hans-Jürgen Günther im bundesdeutschen Magazin Sounds fällte: „Fast wäre es zu wünschen, dass sie sich zur Ruhe setzen, denn dieses Werk ist eine Katastrophe, gegen die selbst das weiße Doppelalbum der Beatles völlig verblasst. Mick Jagger und seine Mannen präsentieren sich als total abschlaffende und selbst abgeschlaffte Mannschaft von Endzwanzigern und Anfang-Dreißigern, die einmal eine aufwühlende R&B-Musik zu spielen verstanden, nun aber reich, fett und substanzlos geworden sind.“ So geht das weiter. Mal konstatiert Günther „kompositorische Mängel“, mal „interpretatorische Fehlleistungen“, dazu moniert er Jaggers Gesang, der „ideenlos und oft sogar verkrampft wirkt“, und bescheinigt eine „erschreckende Substanzlosigkeit der Musik“.



Starker Tobak, der die Frage aufwirft, warum die Kritik so allergisch auf das Album reagierte. Betrachtet man die großartigen Vorgängeralben Beggars Banquet, Let It Bleed und Sticky Fingers fällt in der Tat ein gravierender Unterschied zu Exile on Main St. auf: Diese Alben gewannen ihr Profil durch Übersongs wie Sympathy For The Devil, Gimme Shelter, Midnight Rambler, Moonlight Mile und Brown Sugar. Und ihre Produktion bemühte sich um Transparenz, Dynamik und ein breites Klangspektrum. Exile indes bildete den glatten Gegenentwurf zu dieser Ästhetik: Es wirkte rau, unfertig, chaotisch, geradezu fiebrig; dabei kam es ohne offensichtliche Single-Kandidaten aus und ignorierte die Hörgewohnheiten des Chartpublikums. Kurzum: Exile on Main St. blieb erst einmal unzugänglich.


The-Rolling-Stones---In-Mono---UMG-News


Wer diese Platte knacken wollte, brauchte Zeit, musste statt einzelner Tracks das große Ganze hören und sich auf einen vier Plattenseiten umfassenden Trip einlassen. Tatsächlich war dieses Doppelalbum der „Outcast-Blues der Spieler, Komödianten und Trunkenbolde [...], ein Lied der Penner, Prostituierten und Pimps voller Aggression, Obszönität und Poesie“, wie es Siegfried Schmidt-Joos in seinem legendären „Rock Lexikon“ (Rowohlt, 1973) formulierte.

Zu Beginn der 1970er-Jahre aber wollten so etwas die wenigsten hören. Stattdessen galt das „Höher, schneller, weiter“-Prinzip: Rockmusik sollte progressiv sein, Risiken eingehen, Grenzen einreißen, sich vorwärts entwickeln und innovative Impulse geben. Ein Anspruch, der selbstredend für ihre führenden Kräfte galt, zu denen 1972 – neben Led Zeppelin, Pink Floyd, Yes und Santana – auch die Rolling Stones gehörten, obgleich sie bereits zu den Veteranen zählten.



Exile on Main St. aber unterlief diesen Imperativ und begründete einen neuen Fundamentalismus, der auf die üblichen Zutaten damaliger Rockproduktionen – von Streichern und dem allgegenwärtigen Mellotron bis hin zur virtuosen solistischen Instrumental-Nabelschau – verzichtete und auf die Gesamtwirkung von Song und Sound, Approach und Attitude setzte: Exile wurde zum Manifest des Sleaze Rock.

Interessanterweise waren die Stones selbst mit der Platte zunächst keineswegs glücklich, später beklagte vor allem Jagger die in seinen Ohren unzureichende Produktions­qualität. Erst in späteren Jahren erkannte die Band die Qualität des Albums, das sie dann auch 2010 in einer luxuriösen Neu-Edition wiederveröffentlichte.

Dem Publikum waren derlei Geschmacksfragen wie eh und je wurscht – Exile on Main St. erreichte in den USA und in England Platz eins und kletterte in der Bundesrepublik auf Platz zwei. Songs wie Tumbling Dice, Happy, Sweet Virginia, All Down The Line und Torn & Frayed gehören seit damals zu den Kronjuwelen im riesigen Repertoire der „Greatest Rock’n’Roll Band in the World“. Und Exile gilt als zeitloses Meisterwerk der Rock-Ära.


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