Auch Expert*innen können manchmal mächtig daneben liegen. In dieser Reihe stellen wir vernichtende Plattenkritiken von großen Alben der Musikgeschichte vor, fatale Fehlurteile, die aus heutiger Sicht mindestens merkwürdig wirken.
Hört hier Sticky Fingers und bildet euch euer eigenes Urteil:
Heute geht es um einen waschechten Klassiker, eines der Top-Alben der vielleicht größten Rockband aller Zeiten: Sticky Fingers von den Rolling Stones aus dem Jahr 1971. Kritiker-Legende Jon Landau, der übrigens auch Manager und Co-Produzent von Bruce Springsteen ist, haderte bei Erscheinen mit der Platte. In einer ellenlangen Analyse im Rolling Stone brachte er schweren Herzens auf den Punkt, wieso Sticky Fingers seiner Meinung nach ein Griff ins Klo ist. Wir haben seine Argumente überprüft.
Eines muss man Jon Landau anrechnen: Er bleibt immer fair und wird nie gemein oder ausfallend, wie das bei vielen Verrissen üblich ist. Eine Platte wie Sticky Fingers aber auch nur annähernd negativ zu bewerten, heute oder damals, kann aber letztendlich nichts anderes als ein Totalverriss sein. Landau erkennt, was mit den Stones passiert: Sie werden spätestens jetzt von der jungen, wilden Rockband zu einer Gruppe, die auch mal mit Konzept arbeitet. War der Vorgänger Let It Bleed noch größtenteils eine mitreißende Abfahrt, könnte man Sticky Fingers auf den ersten Eindruck durchaus für eine müdere und bemühtere Angelegenheit halten. Aber man sollte nach mehreren Durchläufen schon feststellen, dass das ganz und gar nicht stimmt. Aber gut – Kritiker*innen sollen kritisieren, dafür sind sie da. Landau sucht unerbittlich nach Schwachstellen, und schießt sich bald auf den Frontmann ein:
Gut Jon, du hast einen Punkt – Mick Jagger ist sicher kein perfekter Sänger. Aber hier muss man schon einschreiten: Hörst du nicht das Feuer in Brown Sugar? Die Emotionen in I Got The Blues oder Sister Morphine? Vom genialen Moonlight Mile ganz zu schweigen. Diese kleine Hasstirade, wen auch lieb gemeint, kann nur das Ergebnis eines verzweifelten Gründe-Suchens sein, was mit der Platte nicht stimmen mag. Die Antwort ist ganz einfach: Alles in Ordnung. Den Kontrast, den dieses Album zum Frühwerk der Stones aufmacht, kann man nur mit ein bisschen Abstand viel besser verstehen. Aber Landau versteht, wo die Reise für die Stones hingeht:
Mit diesem „Statement“ meint Landau den Abschlusssong Moonlight Mile, und das ist ja schon fast ein versöhnliches Ende. Die nahe Zukunft sollte für die Stones auch fruchtbar werden, denn ein Jahr später erschien Exile On Main St., und genau diese drei Platten – Let It Bleed, Sticky Fingers und Exile – gelten heute albentechnisch als der kreative Höhepunkt der Stones. Sie waren also sehr wohl auf dem richtigen Weg. Wie so oft bei unseren historischen Verrissen, gerade aus dieser explosiven Zeit zwischen den 1960er- und 1970er-Jahren, sahen viele Kritiker*innen vor lauter Bäumen den Wald gar nicht mehr. Wenn angeblich schon auf Sticky Fingers Freiheit und Gefühl fehlen, dann müssen wir heutzutage wohl in einer ganz unfreien, gefühllosen und erbärmlichen Musikwelt leben. Gut, dass dem nicht so ist.
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