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Der historische Verriss: "Who Are You" (1978) von The Who

Auch Experten liegen manchmal mächtig daneben. In dieser Reihe stellen wir vernichtende Plattenkritiken von großen Alben der Musikgeschichte vor, fatale Fehlurteile, die aus heutiger Sicht mindestens merkwürdig wirken. Oder war es doch durchaus berechtigte Kritik, die der allgemeinen Meinung entgegensteht? Zeit für eine erneute Analyse. Dieses Mal geht es um ein Album, das nicht wirklich Klassiker-Status besitzt, zumindest im Vergleich mit den früheren Alben dieser legendären Band. Who Are You war die Comeback-Platte von The Who, nachdem man im Verlauf der 1970er-Jahre relativ wenig Neues von ihnen gehört hatte.

Das Album war ein musikalisches Statement in für die Briten völlig veränderten Zeiten, denn Punk und Disco waren 1978 die Sounds der Stunde. Who Are You markiert aber auch das Ende einer Ära: Es war das letzte Album der Band zusammen mit Drummer Keith Moon, der kurze Zeit nach Release an einer Überdosis starb. Hätte er das schon ahnen können, als er damals seine Rezension für den Musikexpress schrieb, wäre Chefredakteur Hermann Haring vermutlich weniger grob und patzig vorgegangen. Aus seiner Kritik spricht eine sehr impulsive Enttäuschung. Er hätte sich viel mehr erwartet. Dabei war Who Are You die beste Platte, die man sich zu diesem Zeitpunkt von The Who wünschen konnte. Schauen wir uns seinen vollmundigen Verriss noch mal an:

Unmissverständlich macht der Autor von Anfang an klar: die schlechteste Platte, die The Who je gemacht haben! Damit hatte er zu diesem Zeitpunkt im Jahr 1978 vielleicht sogar recht, die Kritik befindet sich aber auf sehr hohem Niveau. Quadrophenia (1973) und Who’s Next (1971), ganz zu schweigen von den revolutionären 1960ern: Wer kann das schon noch toppen? Das Urteil „Flop des Monats” ist da übertrieben reißerisch, denn objektiv betrachtet ist die Platte natürlich alles andere als schlecht, allerhöchstens im Vergleich mit dem Rest der Who-Diskographie. Doch auch mit den folgenden Argumenten streift Haring die Wahrheit: Who Are You ist einerseits etwas überladen, andererseits tatsächlich unentschlossen. Wie gesagt: Die Zeiten hatten sich geändert, da kann man schon mal vom direkten, richtigen Weg abkommen. Aber weiter im Text:

Hier schreibt der Kritiker vom Versuch vieler älterer Bands, auf ebenjene veränderte Zeit zu reagieren. Auch The Who wollten irgendwie auf Punkrock antworten, taten das aber weder mit kompromissloser Rock-Energie, noch mit totaler Rückbesinnung auf die frühen 1970er, sondern landeten irgendwo dazwischen. In anderen Rezensionen hieß es, The Who würden sich hier ähnlich tief in Progressive Rock vorwagen wie zu Quadrophenia-Zeiten. Und dennoch kommt in Nummern wie „New Song” die gewohnte rohe Power der alten Who durch. Haring findet, dass das überhaupt zum pompösen Rocktheather mit viel Synthesizer-Einsatz passt. Das würden wir so nicht unterschreiben, alleine schon der großartige Titelsong ist der Gegenbeweis, dass sich diese beiden Facetten sehr wohl sogar in einem einzigen Lied vertragen. Im Prinzip gestehen The Who auf diesem Album ihren Status als Rock-Dinosaurier ein, beweisen aber gleichzeitig, dass dieser Dino noch voll im Saft steht und es ihm keineswegs an Ideen mangelt. Kommen wir zum Fazit:

Es könnte alles immer ein bisschen besser sein, nicht wahr Hermann? Wäre Keith Moon, der auch dieses Album mit seinem Schlagzeugspiel prägt, wenn auch auffallend zurückhaltend, schon vor Veröffentlichung dieser Platte verschieden, hätte es wohl ein ganz anderes Schlussurteil gegeben, à la: The Who zeigen ein letztes Mal in voller Besetzung, warum sie eine der größten Bands der Rockgeschichte sind. So war es nämlich: Nach dem Ausscheiden von Moon waren The Who de facto Geschichte, Who Are You war ihr letztes starkes Album. Alleine schon als Bindeglied zwischen den Rock-Epochen ist diese Platte hochinteressant, aber auch als wichtiger Punkt in der Entwicklung der Band. Townshends und Entwistles Songs, das immer noch unbestreitbare Können aller Bandmitglieder in ihren jeweiligen Fächern und das Feeling, das The Who in jedem Song verbreiten – all das macht Who Are You zu am Ende doch zu einem Triumph. Wer bisher anderer Meinung war, sollte dieser Platte doch noch mal eine Chance geben. The Who sind The Who, unüberhörbar, auch hier.


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