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„…And Justice For All“ von Metallica: Die Sache mit dem Bass

…And Justice For All gehört unbestritten zu den großen Metal-Werken der Achtziger und hat Metallica an die Spitze des Genres befördert. Doch eine Eigenart hängt dem Album seit seiner Veröffentlichung nach: Es klingt sehr „speziell“, insbesondere hört man den Bass von Jason Newsted fast nicht.

von Christof Leim

Das verwundert, denn beim ersten Studio-Testlauf mit dem damals neuen Bandmitglied, der Garage Days-EP von 1987, drückt der Bass deutlich. Das folgende Album Metallica a.k.a. The Black Album tönt 1991 sogar in allen Belangen nahezu perfekt. Was ist also passiert? Drei Gründe lassen sich für den fehlenden Bass ausmachen: die Mitten, die Dopplung und der Lars. Schauen wir uns die mal näher an. (Lest die ganze Geschichte des Albums hier, Details zu den einzelnen Tracks hier.)

Hört hier in das Remaster von …And Justice For All rein:

Jason im Studio

An Newsteds Leistung bei den Aufnahmen liegt das Dilemma jedenfalls nicht. Flemming Rasmussen, der zusammen mit Lars Ulrich und James Hetfield als Produzent fungierte, erinnert sich im Rolling Stone: „Jason ist ein großartiger Musiker. Von ihm selbst und Toningenieur Toby Wright abgesehen bin ich vermutlich einer der wenigen Menschen auf der Welt, der die Bassspuren von Justice gehört hat. Und sie waren verdammt noch mal brillant.“ Damals lässt Rasmussen den Neuen seine Parts während Lars’ Schlagzeugaufnahmen proben und arrangiert einige Details, während Toby Wright an den Sounds arbeitet. Anschließend ballert der 24-Jährige Newsted in nur zwei oder drei Tagen beziehungsweise Nächten seine Spuren ein. Mehr „Produktion“ findet für dieses Instrument nicht statt – aber es ist noch “da”.

Im Mix allerdings geht der Bass dann verloren: Während der laufenden US-Tour mit Van Halen und den Scorpions im Sommer 1988 (alles dazu hier) fliegen Ulrich und Hetfield ständig nach New York. Dort steht das Bearsville Studio, in dem Steve Thompson und Michael Barbiero (bekannt von Appetite For Destruction) das Album abmischen. Deren erklärtes Ziel lautet, den Vorgänger Master Of Puppets als Messlatte zu begreifen und klanglich noch zu übertreffen. Doch wie sich rausstellt, hegen die Musiker andere Pläne.

Metallica 1988: James Hetfield, Kirk Hammett, Lars Ulrich, Jason Newsted (v.l.)

Die Sache mit den Mitten

Wie und wann genau die Vision der beiden Chefs entsteht und aus dem Ruder läuft, wissen wir nicht, aber Lars und James entscheiden sich für einen extrem trockenen Klang mit weniger Mitten, den so genannten „scooped sound“. So verleihen Metallica ihren Songs einen brettharten, vor allem aber eigenen Klang. Knüppelhart und ordentlich auf die Zwölf passt bestens zum Material, allerdings geht fett, lebendig und „rund“ doch anders.

Hetfields Gitarrenwand besitzt deswegen insbesondere Höhen und Bässe – und endet mit letzteren in dem Klangbereich, in denen sich eigentlich der eigentliche Bass durchsetzen sollte, nämlich „unten rum“. Oder anders formuliert: Hetfields Axt klingt alleine schon sehr “bassig”. Die Folge: Es gibt zwar „Gewummer“ auf der Platte, aber das stammt zu großen Teilen von Gitarren und Schlagzeug, nicht nur vom Bass. Was Jason spielt, hört man alleine wegen dieses Konfliktes weniger.

Die Sache mit der Dopplung

Hinzu kommt, dass Newsted es von seiner vorherigen Band Flotsam & Jetsam kennt, die Riffs der Gitarre einfach mitzuspielen, was im Thrash Metal generell nicht ungewöhnlich ist. Wenn Bass und Gitarre also das Gleiche spielen und sich zudem in den gleichen Frequenzbereichen tummeln, wird es schwer, das im Mix noch auseinanderzuhalten. Im tonalen Zweikampf mit den mächtigen Riffgebirgen und den dominanten Drums geht Jason Newsteds Instrument jedenfalls unter.

James Hetfield formuliert das 2008 in einem Interview mit Guitar World so: „Weil Jason meine Parts gedoppelt hat, konnte man kaum sagen, wo die Gitarre anfängt und der Bass aufhört. Außerdem hatte ich auf Justice diesen ‚scooped sound’ mit vielen Tiefen und Höhen, aber wenigen Mitten. Meine Gitarre hat so die ganzen tiefen Frequenzen quasi aufgefressen.“ Newsted selbst bestätigt dieses Problem ebenfalls , etwa gegenüber der Website Metal Exiles, und verweist auf seine mangelnde Erfahrung: „Hätte ich damals schon gewusst, was ich jetzt weiß, wäre das anders gelaufen.“

Lars’ Entscheidung

Vor allem aber, und hier liegt wohl der Hauptgrund für Jason Newsteds klangliche Abwesenheit auf der Platte, wird das Instrument Bass im Mix runtergedreht. Steve Thompson hat das vor einigen Jahren explizit bestätigt und erzählt im Interview mit Loudwire die ganze Geschichte: „Am ersten Tag kam Lars an mit einem Stapel Notizen zum EQ-Setup für die Drums. Das haben wir umgesetzt, und es klang beschissen.“ Also fertigen Thompson und Barbiero eine Alternative an, die Hetfield absegnet. Lars’ beharrt jedoch auf seiner Vision und geht noch weiter: Er bittet den Mischer, den Bass so sehr leiser zu machen, dass er kaum noch wahrzunehmen ist – und dann noch ein Stück weiter. Thompson fragt den Dänen, ob er Witze macht, und schaut fragend zu Hetfield. Der wirft daraufhin nur die Arme in die Luft. (Im Videointerview sieht man die Geste nicht, aber Thompson wird hier damit zitiert.) Flemming Rasmussen bestätigt das: „Lars und James haben entschieden, den Bass runterzuregeln. Ich weiß das, weil ich sie gefragt habe.“ Hinter dem Gesamtsound steckt also eine vielleicht nicht kluge, aber bewusste künstlerische Entscheidung, eine Vision für einen eigenen Klang. Aber das ist womöglich nicht alles, wie wir gleich sehen werden.

Jasons Reaktion

Jason Newsted trifft das natürlich hart. Der Metallica-Biograf Joel McIver zitiert den Bassisten in seinem (empfehlenswerten) Buch Justice For All: The Truth About Metallica: „Ich war so dermaßen enttäuscht, als ich den finalen Mix gehört habe. Das hat mich echt am Boden zerstört, deshalb habe ich das einfach ausgeblendet.“

Der Musikjournalist Steffan Chirazi, langjähriger Metallica-Kollaborateur und federführend beim Fanclub-Magazin So What!, erinnert sich im Buch aus dem neuen Justice-Boxset an eine frühe Reaktion Newsteds. Kurz vor der Veröffentlichung spielt ihm der Musiker das fertige Album vor und schaut in die Runde: „Fällt euch was auf?“ Keiner versteht, was Jason meint, bis der merklich frustriert die Frage stellt: „Wo ist der verdammte Bass?“ Chirazi gibt zu Protokoll, dass der Bassist ihm gegenüber fortan kein weiteres Mal über dieses diffizile Thema gesprochen habe.

In der Tat hält Newsted den Rücken gerade (nicht zum letzten Mal) und sorgt eben umso mehr dafür, dass man ihn insbesondere live nicht überhören kann. Drei Dekaden später hat er seinen Frieden gemacht: „Justice ist, was es ist“, sagt er öfter, eine spezielle Momentaufnahme eben, die trotzdem große Erfolge einfahren konnte. In einem Interview mit Eddie Trunk 2016 formuliert er es so: „Das Album klingt perfekt für diese Zeit und das, was wir damals repräsentiert haben.“ (Nachhören könnt ihr das hier.)

Hat seinen Frieden mit dem Album gemacht: Jason Newsted

Was die Band heute sagt

Natürlich kritisieren viele Fans seit Erscheinen der Platte den Sound – selbst wenn wir der Vollständigkeit halber an dieser Stelle konstatieren wollen, dass manche Hörer genau diesen speziellen brettharten, furztrockenen Klang lieben. In einem Videointervie mit Rolling Stone-Journalist David Fricke kurz nach Erscheinen der Remastered-Version bezeichnet Lars den Prozess als „Ergebnis instinktiver Entscheidungen, die wir damals getroffen haben“. Er bestätigt das Problem mit den Frequenzen und weist daraufhin, dass niemand sich vorher fest vorgenommen hat, das Album auf eine bestimmte Art abzumischen. Vielmehr habe es sich aus den Begebenheiten entwickelt. „Es ist wichtig festzuhalten, dass das nicht so geplant war.“

Umstrittenes Meisterwerk: „…And Justice For All“

Schon zum 20. Jubiläum der Scheibe hatte Ulrich im Decibel-Magazin klargestellt, dass der Bass nicht als Trotzreaktion gegenüber Jason entfernt wurde: „Justice war die James-und-Lars-Show, von Anfang bis zum Ende. Aber es ging uns nicht darum, ihm eine reinzuwürgen. Wir haben das Teil abgemischt und uns selbst zu sehr auf die Schulter geklopft dabei. Wir haben die Rhythmusgitarren und die Drums so lange hochgedreht, bis der Bass verschwunden ist.“ Leadgitarrist Kirk Hammett schlägt in Decibel eine ähnliche Kerbe: „Es war ein Experiment, und ich bin nicht sicher, ob das hundertprozentig geglückt ist.“

Oder doch Schikane?

Nun könnte hinter diesen Entscheidungen noch mehr gesteckt haben als klangliche Überlegungen: Die Fans wissen, dass Jason Newsted von den Metallica-Jungs lange Zeit sehr hart angepackt, ja geradezu schikaniert wurde. Anders wussten die zotteligen Headbanger nicht mit dem Tod seines Vorgängers Cliff Burton umzugehen. Denn schon wenige Wochen nach dessen Unfall am 27. September 1986 (mehr hier) rollt die Metal-Maschine weiter, und Metallica stehen wieder auf der Bühne, ohne den Verlust zu verarbeiten. Man darf nicht vergessen: Die Burschen waren damals nicht mal Mitte Zwanzig und befanden sich in einem Wirbelsturm aus Metal-Wahnsinn, Bier und Weltreisen. Als Rechtfertigung reicht das nicht, aber als Erklärung. Und wir wagen die Behauptung, dass James, Lars und Kirk als erwachsene Männer rückblickend da auch den Kopf schütteln. Jason sieht das genauso: „Würde man sie heute fragen, jetzt, wo alle Kinder haben und reifer geworden sind, käme die Antwort: ‚Oh, Mist. Oops.‘ Das würden sie einem so direkt sagen.“ Wir haben gesehen, dass definitiv nicht nur diese Attitüde gegenüber dem Neuen eine Rolle gespielt hat. Aber es wäre ärgerlich und mehr als ein bisschen doof, wenn Jason vor allem runtergedreht wurde, um ihm eine reinzuwürgen.

And Justice For Jason

Einige technisch beschlagene Fans wollen sich mit dem Sound jedoch nicht abfinden: Über die Jahre tauchen immer neue Versionen des Albums mit Titeln wie …And Justice For Jason oder …And Jason For All auf, bei denen versucht wurde, den vermissten Bass stärker in den Vordergrund zu rücken. Mal hat jemand am EQ gedreht, mal den Bass selber neu eingespielt, vor allem aber hat die offizielle Veröffentlichung einer Handvoll der Songs als Einzelspuren für das Spiel Guitar Hero: Metallica im Jahr 2009 neue Möglichkeiten eröffnet. Die Qualität der Ergebnisse unterscheidet sich deutlich.

https://www.udiscover-music.de/popkultur/5-wahrheiten-uber-metallica

Metallica selbst haben sich jedoch dagegen entschieden, ihr Werk nach dreißig Jahren komplett neu zu mischen oder gar nochmal einzuspielen. „Diese Platten sind das Produkt einer bestimmten Zeit unseres Lebens, Schnappschüsse einer Ära“, sagt Hetfield in Guitar World. „OK, Justice könnte etwas mehr Bässe gebrauchen und St. Anger weniger Blechtrommel, aber solche Sachen machen die Alben zu einem Teil unserer Geschichte.“ Oder anders formuliert: Die Platten sollen grundsätzlich bleiben, was sie sind – einen Standpunkt, bei dem sich Hetfield, Ulrich, Hammett und auch Newsted einig zu sein scheinen. Steve Thompson äußerte sogar die Vermutung, dass der Zustand der Bänder gar keine neue Abmischung von Grund auf erlauben würde, aber das ist eine andere Geschichte.