„We all invent ourselves“: Mit der Zeile hat Michael Stipe bestimmt recht, aber für seine Band R.E.M. und ihr Album Monster, das gerade sein 25-jähriges Jubiläum feiert, gilt das im besonderen Maße.
Nach den Megasellern Out Of Time (1991) und Automatic For The People (1992), dem Über-Hit Losing My Religion und mehreren Jahren ohne Tournee war die damals größte Alternative-Band der Welt (ja, auch Kurt Cobain sah das so) reif für ROCKmusik in Großbuchstaben. Die meisten Monster-Lieder sind wie für die Bühne gemacht: laut, voll trotziger Lebensfreude und – denn dies sind schließlich R.E.M. – manchmal wunderbar seltsam und in den leisen Momenten durchaus sehr (be)sinnlich. Die Mischung macht’s! Sänger Michael Stipe und Bassist Mike Mills sprachen vor fünf Jahren in Berlin mit uns über ihr Meisterwerk und seine Neuauflage.
Hier könnt ihr euch R.E.M. anhören:
Für das Reissue von Monster habt Ihr Demos und Live-Aufnahmen hinzugefügt, aber auch das Originalalbum remixen lassen – vom ursprünglichen Produzenten Scott Litt, es war sein ausdrücklicher Wunsch. Wie findet Ihr das Ergebnis?
Michael Stipe: Ich mag den Remix! Ich wäre nicht in diese Richtung gegangen, aber Scott Litt wollte eben alles noch mal aufarbeiten. Wenn man den Original-Mix und den neuen und dann die Demos dazu anschaut, beleuchtet das den Prozess ganz gut: So ist das alles also entstanden!
Mike Mills: Mit den Jahren hat sich ja die Technologie verbessert, deshalb kann man jetzt Platten remastern und Sounds herausstellen, die man früher gar nicht so gehört hat, weil sie vielleicht im Mix verborgen waren.
Nach welchen Kriterien wählt Ihr die Demos aus?
Mike Mills: Danach, welche wir interessant finden und gut genug. Manchmal sind es Songs, die einfach nicht fertig wurden. Manches ist albern. Es sollen Sachen sein, die den Fans etwas Einblick geben in unsere Arbeit. Da muss man natürlich auch etwas loslassen können – nicht nur, weil man den Leuten etwas Unfertiges zeigt, sondern auch schon, wenn man sich selbst wieder damit beschäftigt, nach 25 Jahren – normalerweise machen wir so was ja nicht. Wir sind eher Typen, die nach vorne schauen und nicht zurück.
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Der Song Revolution, der jetzt bei den Demos dabei ist, hat es zum Beispiel nicht auf Monster geschafft. Bereut Ihr später manchmal solche Entscheidungen?
Mike Mills: Wenn es gerade läuft, dann schreiben wir halt mehr gute Songs, als wir brauchen. Es ist immer eine schwere Entscheidung, das Stück muss ja auch auf das Album passen. Für uns ist so ein Album eine Reise: Man legt es auf, und es soll einen 40 Minuten lang irgendwohin führen. Alles muss ein Teil davon sein, und Revolution schien uns da nicht recht reinzupassen.
Michael Stipe: Revolution hatte sicherlich diesen Swagger, den wir für das Album wollten. Als Fanboys, als Musikliebhaber sind wir ja alle mit Glamrock aufgewachsen, das war ein wichtiger Teil unserer musikalischen Erziehung. Bei R.E.M. hatten wir das bisher nie durchscheinen lassen können, und bei Monster wollten wir nun etwas Anderes kreieren. Etwas ganz Anderes als Automatic For The People auf jeden Fall. Da hätte Revolution gut gepasst, aber vielleicht war es etwas zu nahe an anderen Songs dran.
Gab es bei den Aufnahmen auch mal die Sorge, dass die Fans so eine krasse Veränderung nicht mitmachen wollen?
Michael Stipe: Wir hatten zu der Zeit wohl selbst genügend Swagger (lacht). Wir hatten gerade 20 Millionen Alben verkauft, wir waren on top of the world. Was Popularität und Anerkennung betrifft, war das der Höhepunkt der Band. Wir wussten, dass es ein Schritt zur Seite war, ein radikaler Neuansatz, aber wir waren zuversichtlich, dass wir das schon hinkriegen und die Fans uns folgen würden. Die echten taten das ja auch, die eher zufälligen, die wir durch Losing My Religion und die Automatic-Hits hinzugewonnen haben, nicht alle. Manche verstanden es, manche nicht. Das war okay.
Ihr hattet schon vor den Aufnahmen beschlossen, dass Ihr danach wieder auf Tournee geht. Wie sehr hat das die Songs beeinflusst?
Mike Mills: Die generelle Herangehensweise war dadurch: Lasst uns größere, lautere Songs schreiben! Nachdem wir diese Entscheidung getroffen hatten, ergab sich alles andere daraus. Man kann aber nicht bei jedem einzelnen Song denken: Wird der auf der Bühne funktionieren oder nicht? Grundsätzlich geht’s erst mal ums Album. King Of Comedy haben wir dann zum Beispiel nur zweimal gespielt, auch You nicht so oft.
Auf der Deluxe-Edition gibt es auch Aufnahmen von einem R.E.M.-Konzert, Chicago 1995. Welche Erinnerungen habt Ihr an diese Tournee?
Mike Mills: Die Tour war großartig, eine Menge Spaß. Wir haben vor sehr vielen Leuten in sehr vielen Ländern gespielt. 1989 waren wir ja auch schon ein wenig bekannt gewesen, aber jetzt waren wir richtig populär. Es war schon faszinierend zu sehen, wie viele Menschen kamen, auch an exotischen Orten.
Michael Stipe: Wie Chicago! (Lachen) Seit 1989 hatte sich tatsächlich sehr viel verändert. Wir haben die 80er-Jahre eigentlich damit verbracht, zu lernen, wie man größer wird und berühmter, vor allem ich als Frontman. Nach Losing My Religion war für mich alles anders, auch einfach nur die Straße entlangzugehen. Was die Tournee angeht, war es so: Ich bin vorher zu einigen Konzerten gegangen, einfach als Zuschauer, als Kunde, nicht als special guest oder als Michael Stipe von R.E.M., und da habe ich dann festgestellt, wie mühsam es ist, überhaupt zu so einer Show zu kommen: parken, zahlen, reingehen, Platz finden – und sich dann genügend entspannen können, um das Konzert zu genießen. Dort habe ich auch erkannt, dass wir die Leute ganz hinten gar nicht erreichen. Ich wollte aber auch diese Leute erreichen, die sich die Mühe machen und die Zeit nehmen, den Abend mit uns zu verbringen – auch sie sollten alles kriegen, was wir zu geben haben. Das haben wir versucht.
R.E.M. haben sich vor acht Jahren aufgelöst. Vermisst Ihr zumindest die Konzerte manchmal?
Mike Mills: Nicht wirklich.
Michael Stipe: Ich schon.
Mike Mills: Natürlich, auf eine Art. Aber es richtig zu vermissen würde für mich bedeuten, dass ich die Entscheidung, dass wir uns getrennt haben, bereue, aber ich bereue es überhaupt nicht. Ich denke sehr gern an vieles zurück, aber möchte ich nächste Woche wieder damit anfangen? Nicht unbedingt. Neulich sah ich Freunde von mir spielen, und ich dachte: Mensch, das könnte ich doch auch machen, sieht nach Spaß aus! Und dann: Und sie machen das morgen wieder, und übermorgen, und nächste Woche, und nächsten Monat, und übernächsten. Weißt du was, zieht Ihr mal los und ich bleibe hier!
Ihr wirkt auf jeden Fall entspannt zusammen, vielleicht mehr als früher.
Michael Stipe: Unserer Freundschaft hat die Band-Auflösung sicher gut getan. Aber wir haben uns immer umeinander gekümmert, die Freundschaft kam immer vor allem anderen. Uns war damals einfach klar, dass wir – so, wie wir waren und mit unseren Fähigkeiten – etwas Wunderbares geschaffen hatten. Wie wir diese kleine Box, in der wir arbeiten sollten, genommen und aufgeblasen haben und so was wie Monster daraus gemacht haben. Ich wollte das nicht gefährden. Ich wollte nicht 70 sein und jeden Sommer mit einer Greatest-Hits-Tour durch Europa touren. Das schien mir nicht die richtige Art, unser Werk zu ehren. Besser, es einzukapseln und für sich zu betrachten. Und so machen das jetzt ja auch die Hörer – weil wir nicht jedes Jahr ein neues Album rausbringen, das alle ignorieren und nicht im Radio gespielt wird. Unser Werk steht jetzt für sich.
Das Zurückschauen: Macht es bei manchen Alben mehr Spaß als bei anderen?
Michael Stipe: Wir sind noch gar nicht bei meinen beiden liebsten R.E.M.-Alben angekommen, New Adventures In Hi-Fi und Reveal. Was sind denn deine, Mike?
Mike Mills: Ich habe keine richtigen Favoriten, aber was ich bei Alben mag, und bei unseren besonders, ist, wenn alles zusammenhängt und sie ein geschlossenes Bild vermitteln – und das haben wir bei dreien sehr gut gemacht, finde ich: Murmur, Automatic For The People und Reveal. Letzteres ist leider weitgehend übersehen worden, das ist sehr schade.
Michael Stipe: War einfach schlechtes Timing. Wir waren zu lange da gewesen.
Was macht Ihr momentan, wenn Ihr nicht gerade in Sachen R.E.M. unterwegs seid?
Mike Mills: Mein Freund Robert McDuffie und ich versuchen, die Rock’n’Roll-Welt und die klassische zu vermischen und zu zeigen, dass es da weniger Unterschiede gibt, als gemeinhin angenommen wird. Concerto For Violin, Rock Band And String Orchestra heißt das Projekt. Bobby ist ein Rockstar mit einer Violine, und das Konzert ist eine Rockshow, aber es hat eben auch diese klassischen Elemente.
Und immer noch kein Soloalbum?
Mike Mills: Ich weiß, dass ich das versprochen habe…
Michael Stipe: Du musst es schon wegen des Titels machen: The Mike Mills Experience Featuring Mike Mills. Das muss passieren!
Mike Mills: Vielleicht nächstes Jahr. Mal sehen.
Michael Stipe: No time like now! Ich kann Backgroundvocals beisteuern.
Michael, du bist schon etwas weiter.
Michael Stipe: Ja, ich habe vor einigen Wochen meine Solokarriere begonnen, mit der Single Your Capricious Soul. Ich arbeite auch an anderen Songs. Es ist aufregend. Ich liebe meine Singstimme, meine Sprechstimme nicht so, aber die Singstimme. Material zu finden, das dazu passt, macht mich sehr glücklich. Einiges habe ich zusammen mit Andy LeMaster geschrieben, einem genialen Musiker, Singer/Songwriter und Produzenten aus Athens,Georgia. Wir sind schon einige Male gemeinsam als The Watchcaps aufgetreten – eine Band, zu der auch Jessie Smith, die Tochter von Patti, gehört –, bei Benefizveranstaltungen oder als Vorgruppe für Patti Smith. The Watchcaps haben einige der schwierigsten Coversongs aller Zeiten gespielt, und kürzlich auch einige meiner neuen Songs.
Wann können wir denn mit dem Soloalbum rechnen, nächstes Jahr?
Michael Stipe: Ich würde nicht darauf warten. Ich würde mir Zeit erlauben. Ich komponiere zum ersten Mal in meinem Leben Musik – das ist schwerer, als ich dachte. Danke, Mike, dass Ihr es all die Jahre so leicht aussehen lassen habt! Aber es macht mir Spaß, auch wenn es nicht meine Stärke ist. Ich puzzle gern im Studio rum und probiere alles Mögliche aus, meine ganz eigene Kunst. Ich weiß, dass ich mich niemals mit R.E.M. messen kann, das versuche ich nicht mal.