Für jede Stimmungs- und Lebenslage gibt es ja bestimmte Alben, die man in seinem synaptisch verschalteten Karteiensystem namens Gehirn abgespeichert haben sollte. Am besten suche man nicht erst in der sich einstellenden Lebenslage nach der passenden Musik, sondern hat den Soundtrack schon zur Hand und im Kopf. Stevie Wonders Talking Book ist ein Album, das in der Abteilung Liebesglück abgelegt werden kann, möglicherweise mit einem Querverweis auf Trauer wegen abwesenden Liebesglücks. Aber zunächst einmal ist es ein Album für love birds, denen das Grinsen tief bis in die Knie hängt und die am liebsten Fremde in der U-Bahn umarmen wollen.
Ebenso wie ein Besuch in grenzwertig kitschigen Städten wie Venedig oder Paris ist Talking Book nichts für zynische Herzen. Allein schon die Namen der Songs: You Are The Sunshine Of My Life, I Believe (When I Fall In Love It Will Be Forever) oder You And I. Auf Textebene ist die Sache klar: Sweet, sweet love. Und natürlich alles für die Ewigkeit. Man wüsste nun gerne, welcher Frau diese süßen Versprechen galten, im Jahr 1972, als das Album als das zweite von Wonder in diesem Jahr erschienen ist.
Von zeitgenössischen Kritikern wurde Talking Book als direkte Fortsetzung von Music On My Mind eingeordnet, das im selben Jahr erschienen war. Anders als sein Vorgänger scheint Talking Book nicht so technikvernarrt zu sein, klingt organischer, wenn auch immer noch sehr unternehmungslustig. Das hat wohl damit zu tun, dass sich Wonder und seine Produzenten Robert Margouleff und Malcolm Cecil im Studio weniger damit beschäftigten, was alles technisch machbar war, sondern vor allem, was wirklich gut klang. Möglicherweise waren Margouleff und Cecil erst etwas grantig, dass man ihnen ihr Spielzeug wegnahm bzw. das meiste davon. Aber das Ergebnis überzeugt umso mehr.
Talking Books ist die Essenz von Stevie Wonder: verträumt, reich geschichtet, funky und romantisch zugleich. Es macht unglaublich gute Laune und steckte auf eingefleischte Rockfans mit dem R&B-Virus an. Stevie Wonder bringt nämlich auch noch die schnulzigsten Liebesversprechungen (I Believe If I Fall In Love It Will Be Forever) so zum besten, dass einem als Rock´n`Roller die Knie weich werden:
Without despair we will share
And the joys of caring will not be replaced
What has been must never end
And with the strength we have won't be erased
When the truths of love are planted firm
They won't be hard to find
And the words of love I speak to you
Will echo in your mind
Bestimmend ist auf musikalischer Ebene das omnipräsente Keyboard Wonders, mit dem er die fantastischsten Dinge anstellt, insbesondere in Kombination mit verschiedenen Synthesizern, damals der heiße Shit. Als Beispiel für Wonders Experimentierfreude kann sein Einsatz eines Hohner Clavinet Model C auf Superstition gelten, ein Cemballo-ähnliches elektrisches Tasteninstrument, das einen typischen Funksound erzeugt, übrigens Made in Germany (Trossingen). Es gehört heute ganz selbstverständlich zum Funksound, zu Wonders Zeiten war sein Einsatz neu. Weiter kommen auf dem Album ein Fender Rhodes Klavier sowie verschiedene Arp & Moog Synthesizer zum Einsatz, die unter anderem ein Streichorchester imitieren. Immer wieder improvisiert Wonder auf seiner Mundharmonika, was eine schöne Blues-Brücke zwischen den Songs ergibt. Eine Reihe illustrer Gäste auf dem Album rundet das Qualitätsprodukt ab, unter anderem Jeff Beck an der Gitarre (The Yardbirds), Ghostbuster Ray Parker, Saxophonistlegende David Sanborn oder Gitarrist Buzz Feiten.
Schaut euch hier Stevie Wonder beim Performen von Superstition an:
Und natürlich ist da Wonders außergewöhnliche Stimme, die die Songs voranträgt und einem beim Hören stets das Gefühl gibt, sie führe einen an der Hand durch die Welt. Voller Energie ist sie und man kann nicht anders als sich anstecken zu lassen: von Wonders Lebensfreude, seiner Verknalltheit und seinen schönen Texten.
Das Albumcover zeigt den damals gerade 22-Jährigen in einem weinroten Afghan in sandigem Gebirge sitzen, dazu reich mit Schmuck behangen und die Haare zu Cornrows geflochten. Ganz entgegen dieser eher kontemplativen Stimmung sprudeln Wonders Songs wie eine Sodaclub-Flasche mit Überdruck.
Manche munkeln, Talking Book sei der größte Wurf Stevie Wonders gewesen – eine Karriere nicht gerade knapp an Höhepunkten. Doch es ist etwas dran: Nie klang Wonder entspannter, stimmiger, mehr auf der Höhe seiner technischen Fähigkeiten und – vielleicht noch wichtiger, nie klang er verliebter. Dieser wundersame Schwebezustand ermöglicht einem Künstler ja überhaupt erst geniemäßig – Pardon – so richtig die Sau rauszulassen. Geheimnisvoll liest sich auch die Widmung der ersten Pressungen der Platte: “Here is my music. It is all I have to tell you how I feel. Know that your love keeps my love strong.” Wenn Stevie das glaubt, hach, dann können wir es auch.