„Achtung Baby“: Wie sich U2 mit ihrem siebten Album neu erfanden

Nach ihrem großen Durchbruch in der zweiten Hälfte der Achtziger stehen U2 an einem Scheideweg: Entweder die Band überwindet ihre inneren Konflikte und erfindet sich neu oder die Musiker gehen getrennte Wege. Wofür sich die Iren entschieden haben, wissen wir heute. Ihr siebtes Album Achtung Baby führt U2 wieder auf den richtigen Pfad.

von Timon Menge

Hier könnt ihr euch Achtung Baby von U2 anhören:

Frischer Wind in Berlin

Die Aufnahme-Sessions beginnen im Oktober 1990 in den legendären Hansa Studios in Berlin. David Bowie hat hier aufgenommen, ebenso wie Iggy Pop, Depeche Mode, Nick Cave und die Prog-Legenden Marillion. Doch seit dem 9. November 1989 hat sich in der heutigen Hauptstadt einiges verändert. Die Mauer ist weg, Deutschland steckt im Wandel und U2 mittendrin. Im Gegensatz zu Deutschland, finden die Bandmitglieder jedoch nicht zusammen, sondern driften auseinander. Kreative Differenzen lähmen die Gruppe, sogar die Auflösung steht im Raum. Dann sprengt ein Song die Ketten: One.

Das Stück beschäftigt sich mit den Schwierigkeiten innerhalb der Band, aber auch mit der Deutschen Wiedervereinigung. So singt Texter Bono beispielsweise: „Well it's too late tonight / To drag the past out into the light / We’re one but we're not the same / We get to carry each other, carry each other“. Der Song erscheint später als Benefiz-Single, die Einnahmen kommen der Aids-Forschung zugute. Für U2 bedeutet das Stück den Startschuss für die restliche Albumproduktion. Die zweite Aufnahmerunde findet ab Februar 1991 in Dublin statt und dort klappt’s schon deutlich besser.

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Zu einem weiteren Zwischenfall kommt es im April, als einige Bänder von den Sessions in Berlin gestohlen werden. Die Band hatte die Aufnahmen in einem Hotelzimmer zurückgelassen, wo sie jemandem in die Hände fielen, der daraus das Bootleg „Salome — The [Axtung Beibi] Outtakes“ bastelte, die wohl berühmteste illegale U2-Veröffentlichung. Bono bezeichnet die Aktion als „Nonsense“, Gitarrist The Edge vergleicht die vorzeitige Veröffentlichung mit einer Vergewaltigung. Letzteres ist natürlich großer Blödsinn, doch der Zwischenfall wirft U2 für einige Wochen zurück. Im September 1991 kann die Band endlich einen Deckel auf die Produktion machen. Zwei Monate später erscheint Achtung Baby.

Achtung Baby: Charterfolg mit Tour der Superlative

Mit ihren neuen Einflüssen aus Alternative Rock, Elektro und Industrial treffen U2 einen Nerv. In den USA schießt Achtung Baby sofort auf Platz eins der Charts. Ganze 101 Wochen dauert es, bis das Album nicht mehr in den Top 200 auftaucht. Es hagelt Gold und Platin von allen Seiten, U2 sind wieder voll da. Das stellen die Iren auch auf ihrer nächsten Tour unter Beweis. Los geht es am 29. Februar 1992 in Lakeland, Florida. U2 verabschieden sich von den eher nüchternen Bühnenaufbauten der Vergangenheit und feuern aus allen Rohren. Die Band möchte dem Publikum unter die Nase reiben, wie sehr die Welt im Fernseh- und Medienwahnsinn steckt und setzt alles auf Reizüberflutung. Mehrere große Bildschirme, ein Beleuchtungssystem aus Autos, zahlreiche unterschiedliche Charaktere, ausschließlich neue Songs in der ersten halben Stunde: U2 bombardieren ihre Zuschauer*innen mit einem echten Spektakel. Die Inspiration dafür bezieht die Band aus der Berichterstattung über den zu jener Zeit tobenden Zweiten Golfkrieg.

U2 sichern sich ihren Platz in den Musikgeschichtsbüchern

Bis heute markiert Achtung Baby einen dicken Wendepunkt in der U2-Geschichte. Von ernst zu selbstironisch, von Wohlfühl-Atmosphäre zu Rock-Gewitter, von „U2 light“ zu U2. Mit ihrem siebten Album zeigen die Iren endgültig, was alles in ihnen steckt, begeistern Fan-Scharen auf der ganzen Welt und manifestieren ihren Status als eine der größten Rockbands des Planeten. Manch eine Gruppe hätte nach zwei Monumentalwerken wie The Joshua Tree und Achtung Baby wohl alles erzählt, doch U2 werden mit All That You Can’t Leave Behind (2000) und How To Dismantle An Atomic Bomb (2004) noch mindestens zwei weitere Meilensteine veröffentlichen. Doch das sind wieder einmal andere Geschichten.