Mit ihrem eklektischen Mix aus Funk, Soul und afrikanischen Rhythmen waren Cymande in den 70ern ihrer Zeit voraus. Der Kult um die Global-Beat-Pioniere aus London verhilft der Band aktuell zu einem zweiten Frühling. Mit Renascence steht demnächst ein neues Album in den Startlöchern.
Anfang der Siebziger Jahre sieht London noch ganz anders aus als heute. Die Mieten sind niedrig, und Stadtteile wie Brixton und Notting Hill ziehen eine große Zuwanderer:innen-Community aus den ehemaligen britischen Kolonien an. Mit im Gepäck haben sie nicht nur die Küche und die Kultur, sondern auch die Musik. Das fällt auf fruchtbaren Boden, denn in der Durchmischung der Stile entsteht zwangsläufig etwas Neues. Ganz vorne mit dabei: Cymande, drei Silben, Betonung auf der zweiten. Das Wort bedeutet so viel wie „weiße Taube“ und umreißt schon einmal ganz gut, worum es der neunköpfigen Band geht: peace, love, unity. Musikalisch verpackt wird das aber anders als jemals zuvor. Die Mitglieder von Cymande stammen vornehmlich aus der Karibik – aus Jamaika, aus Guyana, aus St. Vincent. Wenn es um ihre Musik geht, sind sie jedoch auf der ganzen Welt zuhause.
Viele Ziele, alle Stile
Das kann man schon auf ihrem ersten Album hören. Die selbstbetitelte LP erscheint 1972 und kombiniert Stile, die bisher noch nicht kombiniert worden sind: Funk und Soul stehen im Vordergrund, Reggae, Rock und Jazz spielen ebenfalls eine Rolle. Richtig aufsehenerregend sind aber die afrikanischen Rhythmen, gefiltert durch den karibischen Einfluss, nochmals gefiltert durch die Londoner Musikszene. Cymande machen World Music, bevor jemand dieses Wort überhaupt verwendet. Und noch wichtiger: Sie machen die ganze bunte Mischung tanzbar. Songs wie The Message oder Getting It Back klingen wie eine Block Party für die eigenen vier Wände, haben einen unwiderstehlichen Groove und wirken erstaunlich modern. In London sind Cymande damals Lokalmatadore, ohne dass sich ihre Platten wirklich gut verkaufen. Die Band erfüllt sich trotzdem die meisten ihrer Träume.
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Als Bassist Steve Scipio 2024 am Rande des Berliner XJAZZ!-Festivals interviewt wird, erinnert er sich: „1973 gingen wir auf unsere erste Tournee in den Vereinigten Staaten, das war für uns als junge Musiker ein ziemliches Erlebnis. Vor Al Green und anderen großen Künstlern zu spielen, vor 30.000 Leuten zu spielen und so weiter, das war eine neue Erfahrung für uns. Das andere Erlebnis war 2011, als wir uns für unsere ersten Shows in Paris und in London wiedervereinten. Es hat uns alle überrascht, dass das Publikum so jung war. Ein so junges Publikum zu sehen und auch zu sehen, dass es mit der Musik so vertraut war, weil sie mit der Musik mitsangen, das war für uns eine augenöffnende Erfahrung. Dadurch wurde uns klar, wie aktuell die Musik war.“
Neugeburt dank Hip-Hop
Scipio nimmt damit gleich die glorreiche zweite Halbzeit in der Karriere von Cymande vorweg. Drei Alben erscheinen, bevor sich die Band Mitte der Siebziger Jahre auflöst. Der große Durchbruch ist ihnen nie geglückt, ein legendärer Auftritt im Harlem Apollo der zwischenzeitliche Höhepunkt in der Bandgeschichte. Doch dann kommt Hip-Hop. Auf den Straßen von New York spielen junge Menschen erneut mit den Stilen, kombinieren Musik unterschiedlichster Provenienz, erschaffen aus Altem etwas völlig Neues. Urgesteine wie Kool Herc und Grandmaster Flash wühlen sich auf der Suche nach Breakbeats durch Kisten voller Platten mit interessanten Covern – und werden auch bei Cymande fündig. Die Zeitlosigkeit ihrer Musik haucht ihnen ein zweites Leben ein, denn jetzt entdeckt eine neue Generation von Künstler:innen ihren kosmopolitischen Sound. De La Soul, The Fugees, EPMD und MC Solaar sind nur ein paar der großen Hip-Hop-Namen, die Cymande-Stücke samplen und Menschen zum Tanzen bringen, die noch gar nicht geboren waren, als die Londoner zum ersten Mal auf der Bühne standen. Als Spike Lee ihren Song Bra für den Soundtrack zu seinem Film Crooklyn auswählt, ist es der endgültige Ritterschlag.
Liebe, Frieden, Ehrenrunde
2022 folgt ein gefeierter Dokumentarfilm. Getting It Back – The Story Of Cymande weiht ein ganz neues Publikum in die Musik der Global-Beat-Pioniere ein. Die Band um Bassist Steve Scipio, Gitarrist Patrick Patterson und Schlagzeuger Sam Kelley hat sich neuformiert und erntet mit A Simple Act Of Faith, ihrem ersten neuen Album seit mehr als vierzig Jahren, die wohlverdienten Lorbeeren. Im globaler gewordenen musikalischen Klima erfahren die Londoner endlich die ihnen zustehende Wertschätzung, auch weil ihre Message nach wie vor aktuell ist.
„Wir sind in einer Umgebung aufgewachsen, in der uns Frieden und Liebe gelehrt wurde“, sagt Steve Scipio gegenüber dem XJAZZ!-Magazin. „In unserer Gemeinschaft wird Liebe als die ultimative Macht angesehen, die Macht, die alles übertrumpfen kann. Wenn man der Liebe eine Chance gibt, wird die Liebe einen Weg finden. Das ist im Wesentlichen eine Art übergeordnete Botschaft unserer Musik: Wir erkennen an, dass es all diese Probleme gibt, mit denen wir uns auseinandersetzen müssen, aber dass, wenn man der Liebe und dem Frieden eine Chance gibt, sie eine Rolle spielen werden.“ Die nächste Chance kommt gleich Anfang des neuen Jahres. Denn dann erscheint Renascence, das neue Album von Cymande, das gleichzeitig ewig modern und ewig zeitlos klingt. Es ist der Sound einer Band, die Grenzen sprengt, indem sie vermeintlich disparate Stile sehr lässig miteinander verbindet. Und einen damit an die wahre Macht der Musik erinnert: Gemeinschaft stiften, wo vorher keine war.