An welcher Stelle beginnt man einen Streifzug durch die deutsche Musiklandschaft besser als dort, wo sich niemand dem rauschenden Soundtrack des Meeres entziehen kann? Damit nicht genug begann in Hamburg zwar die Karriere der Beatles, doch wahrscheinlich verfügt keine andere Metropole hierzulande über eine solche musikalische Identität wie die Hansestadt. Dazu braucht man gar nicht bis zum “Reeperbahn”-Lied zurückzugehen, denn an der Elbe wird auch heute noch Musikgeschichte geschrieben. Schwermetallische Säulenheilige wie Helloween oder Running Wild mögen zwar auf Englisch knattern, sind aber im Ausland zu Bands gewordene Visitenkarten für teutonischen Edelstahl.
Innovativ waren die Hanseaten von jeher. Wenn Faust frischen Krautrock gekocht haben, dann ist Inga Rumpf zur Vorkämpferin für ein starkes Frauenbild geworden, aber alles kann, nichts muss: Der Stadtstaat ist immerhin groß genug, um Platz für jeden Geschmack zu bieten. Mögen es Annett Louisan und Roger Cicero eher glatt, schielt Nils Koppruch mit naturbelassenem Country über den großen Teich. Gemein ist allen, dass sie den internationalen Zeitgeist mit eigener Handschrift widerspiegeln.
Provinziell ging es in Hamburg sowieso nie zu. Die Sprache heißt dort so, wie die Landschaft ist – Platt, aber das lässt sich nicht auf die Mucke münzen. “Der Klang der Straßen unter meinen Füßen”, so nennt Bernd Begemann sie, der heimliche Vater der sogenannten Hamburger Schule. Er nämlich hat unsere Muttersprache im Pop salonfähig gemacht, als sie noch völlig uncool war. Die ganz andere Neue Deutsche Welle, die er dadurch losgetreten hat, ist nicht nur die Elbe entlang gerollt. Truppen wie Die Sterne haben ihm einiges zu verdanken, nicht zuletzt Mut zum inhaltlichen Anspruch. Dadurch ist “Diskursrock” zum geflügelten Wort und Selbstläufer geworden – kritisch, aber nicht klugscheißernd, sondern mit Augenzwinkern.
Die Blaupause dazu muss man nicht lange suchen, denn gleich um die Ecke haben es Die Goldenen Zitronen vorgemacht: Spaß und Ernst schlossen sich bei den Deutschpunk-Wegbereitern noch nie aus, was für sie bis heute gilt: Indem sie kreuz und quer durch den Genre-Garten wildern, bestellten sie den Boden für exotische Gewächse. Oder wer hätte tanzbare Stilblüten wie Loui Vetton, Rantanplan und die Skatoons am Nordseestrand erwartet? Und manche haben sich ganz nebenbei eigentlich sehr amerikanische Musik unter den Nagel gerissen, um etwas Unerhörtes daraus zu machen.
Ja, was wäre Deutschland zum Beispiel ohne nordischen Hip Hop und seine bunten Nachbeben? Gerade Absolute Beginner haben sich als Keimzelle erwiesen. Jan Delay näselt sich von Funk bis Reggae und trägt dadurch ein Stück Entspannung nach außen, wie es sie nur “da oben” geben kann. Kosmopolitisch war und ist dort auch Samy Deluxe, ob allein oder im Duo mit DJ Dynamite. Letztlich hat sich der Mann mit den afrikanischen Wurzeln als internationaler Botschafter für den Sprechgesang erwiesen. Den kann man nämlich in jedem Fall mit dem Herzen fühlen, ohne im Wörterbuch nachschlagen zu müssen.
Bleiben noch seine Kollegen Fettes Brot. Nur ein weiteres Rap-Trio, dachte man da zuerst, aber der Sound der Gruppe kennt längst keine Grenzen mehr, und ihre Texte wurden zum allgemeinen Kulturgut – “Schwule Mädchen” irgendwer? Das ist “Leider geil”, doch diese Schote kommt wiederum von jemand anderem: Als Gegenentwurf zum mitunter verkopften Stoff von Blumfeld, Kante und Co. eignen sich Deichkind perfekt: sympathisch prollig, in jeder Hinsicht punkige Grenzgänger – Party mit Köpfchen und ohne Berührungsängste nennt man das. Andererseits bedeutet Hamburg aber auch Melancholie, und die gibt es in hohen Dosen bei Grand Hotel van Cleef, dem Zuhause von Tomte oder Marcus Wiebusch und Kettcar.
Wer einmal Salzluft geschnuppert hat, den überkommt unerklärliche Wehmut. Dazu braucht man nicht einmal an der Waterkant geboren worden sein, was unter anderem der hergezogene Dendemann oder Udo Lindenberg bewiesen hat; der lüftete zumindest im übertragenden Sinn seinen Hut vor der Stadt und ihren Milieus. Genauso edel rocken auch Selig, und die sind bekanntermaßen nicht totzukriegen. Jawohl, das Meeresklima hält jung – auch bei steifer Brise.
Solch rauer Wind weht Musikern hier insbesondere dann entgegen, wenn sie sich auf Lokalkolorit berufen. Schnell ist man deutschtümelnd in einen Fettnapf getreten, aber auch diese Untiefen umschiffen Hamburger Künstler gekonnt. Allen voran sind da Tocotronic zu nennen, die mit schlauen Slogans zum Nachdenken anregen und sich für eine bessere Welt einsetzen. Das brachte sie und ihre Heimatstadt schon ins Feuilleton – ganz davon abgesehen, dass sie mit Polyester, Cord und fiesen Scheiteln einen schrulligen Modetrend losgetreten haben. In diesem Outfit sind sie dann in die bundesdeutsche Hauptstadt eingefallen, um ihre Berlin-Trilogie aufzunehmen, aber dieses Thema halten wir uns für ein andermal auf ...