Von kompromisslosen Berichten über Rassenhass und knallharten Tiraden gegen Ungerechtigkeit bis hin zu Forderungen nach Gleichberechtigung und sogar Stadionhymnen mit unterschwelliger Botschaft – die besten Protestsongs beschäftigen sich nicht nur mit den Fragen ihrer Zeit, sondern überdauern Generationen und werden zu zeitlosen politischen Statements. Heutzutage ist Hip-Hop wohl das politisch engagierteste Genre, aber in der Vergangenheit kamen die besten Protestsongs auch aus dem Jazz, Folk, Funk und Rock.
Viele hätten einen Platz auf dieser Liste verdient, aber hier sind zehn der besten Protestsongs der Musikgeschichte.
von Jamie Atkins
1. Billie Holiday: Strange Fruit (1939)
Strange Fruit ist ein Gedicht von Abel Meeropol – einem weißen, jüdischen Lehrer und Mitglied der Kommunistischen Partei. Es wurde 1937 veröffentlicht und legte den brutalen Rassismus offen, der in Amerika zu dieser Zeit grassierte. Im Grunde war es eine nüchterne, aber sehr kraftvolle Beschreibung eines Fotos, das Meeropol gesehen hatte und auf dem ein Lynchmord zu sehen war. Mit einer krassen Wortwahl stellt er die Idylle der Südstaaten gegen ungeschönte Beschreibungen von schwarzen Leichen, die an Baumästen hängen. Später vertonte er das Gedicht und das Ergebnis schockiert die Hörer auch heute noch.
Als Billie Holiday 1939 anfing, den Song im Club Café Society live zu singen, hatte sie zuerst Angst vor Anfeindungen und Repressalien. Aber Strange Fruit verschlug dem Publikum regelmäßig die Sprache, und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. Sie durfte den Song immer erst am Ende ihres Sets spielen, wenn die Bar geschlossen wurde und der Raum schon abgedunkelt war. Holiday war sich der Wirkung des Songs bewusst und wollte ihn unbedingt aufnehmen. Sie sprach mit ihrem Label Columbia, aber dort hatte man Angst vor den Auswirkungen und gab ihr stattdesen die Erlaubnis, den Song für ein anderes Label aufzunehmen. Commodore stellte sich der Aufgabe und veröffentlichte Holidays Version. Sie verkauften eine Million Exemplare und rückten damit die unfassbare Grausamkeit und das Leid, das der Rassenhass verursachte, ins öffentliche Bewusstsein. Egal, wie oft man es hört, Strange Fruit klingt immer noch wie eine Warnung aus einer Vergangenheit, die noch gar nicht so weit zurückliegt.
2. Woody Guthrie: This Land Is Your land (1944)
Wer hätte gedacht, dass sein Song, der so tief in der amerikanischen Seele verwurzelt ist wie Woody Guthries ‘This Land Is Your Land’, ursprünglich lediglich als Antwort auf einen anderen Song gemeint war. Guthrie war zunehmend genervt von der Selbstgefälligkeit, wie er es empfand, von Irving Berlins Song ‘God Bless America’, dem man sich Ende der 1930er Jahre kaum entziehen konnte, weil Kate Smiths Version ständig im Radio lief. Also verfasste er eine Antwort, die die Schönheit der Natur der Vereinigten Staaten feierte und gleichzeitig das Konzept von privatem Grundbesitz in Frage stellte und die Armut und Ungleichheit in Amerika anprangerte. Die Melodie basierte auf dem Carter Family-Song ‘When The World’s On Fire’, der seinerseits auf das baptistische Loblied ‘Oh, My Loving Brother’ zurückging. Guthrie nannte den Song ‘God Blessed America’ und ursprünglich endeten die Strophen nicht mit “This land was made for you and me”, sondern mit “God blessed America for me”.
1944 nahm Guthrie ein Demo von dem Song auf. Dabei änderte er den Titel und ließ die politisch eindeutigste Strophe weg. Trotzdem entwickelte ‘This Land Is Your Land’ bald eine Eigendynamik und der Song wurde zu einer Art patriotischer Hymne, die am Lagerfeuer, bei Demos und in Schulen gesungen wurde. Wie alle großartigen Protestsongs, bewegt er auch heute noch die Menschen: Die intensive Performance von Pete Seeger und Bruce Springsteen bei Präsident Barack Obamas Amtseinführung im Jahr 2009 ist ein beeindruckender Beweis für seine immer noch andauernde Strahlkraft.
3. Bob Dylan: Masters Of War (1963)
Viele von Dylans frühen Abstechern ins politische Songwriting ließen Raum für Interpretationen. Aber auf Masters Of War redet der damals 21-Jährige nicht lange um den heißen Brei herum. Anlässlich der Veröffentlichung des dazugehörigen Albums The Freewheelin’ Bob Dylan sagte er zu Nat Hentoff von Village Voice: “Ich habe bisher noch nie etwas derartiges geschrieben… Ich singe normalerweise keine Lieder in denen ich Leuten den Tod wünsche, aber diesmal ist es eben so passiert. Dieser Song ist ein Verzweiflungsschlag, ein Greifen nach dem letzten Strohhalm, ein Gefühl der Hilflosigkeit.”
Es ist ein wütender Song. Es war des Gefühl der Machtlosigkeit angesichts der politischen Entwicklungen und der Tendenz der USA, sich aus fadenscheinigen Gründen in die internationale Politik – wie Kuba, Vietnam, Irak – einzumischen, das Dylan zu schaffen machte. 2001 erklärte er in einem Interview mit USA Today, dass es ein “pazifistischer Song gegen den Krieg” war und fügte hinzu: “Es ist kein Antikriegssong. Er richtete sich gegen das, was Eisenhower am Ende seiner Präsidentschaft als militärisch-industriellen Komplex bezeichnete. Diese Stimmung lag in der Luft und ich setzte mich damit auseinander.”
Das tat er. Dylan hatte die Fähigkeit, seinen Finger auf den Puls der Zeit zu legen und schrieb einige der besten Protestsongs der frühen 60er-Jahre. Und trotz des bitterbösen Zorns wurde Masters Of War von zahlreichen Künstlern gecovert – von den Staple Singers bis Cher. Und seine Wirkung lässt immer noch nicht nach. Sogar Ed Sheeran coverte den Song 2013 für die ONE Campaign gegen die weltweite Armut.
4. James Brown: Say It Loud – I’m Black And I’m Proud (1968)
Bis 1968 hatte James Brown Black Music schon mehrmals maßgeblich beeinflusst, aber mit seinem in dem Jahr erschienenen Say It Loud – I’m Black And I’m Proud äußerte er sich zum ersten Mal zur Bürgerrechtsbewegung. Und wie immer sprengte er dabei alles bisher Dagewesene: Bis dahin war der Tonfall der Bürgerrechtsbewegung eher als eine Bitte um Gleichberechtigung zu beschreiben. Browns Song allerdings war voller Trotz und Stolz. Er bittet nicht höflich darum, akzeptiert zu werden, sondern fühlt sich vollkommen wohl in seiner Haut.
Der Song ging auf Platz 10 der Billboard-Charts und diente als Blaupause für das Funk-Genre. Ähnlich wie Stevie Wonder-Klassiker in den 70ern war Say It Loud – I’m Black And I’m Proud ein politischer Song, der auch auf den Tanzflächen einschlug. Ein Knaller, der kein bisschen schüchtern war und viele Generationen beeinflusst hat.
5. Crosby, Stills, Nash & Young: Ohio (1970)
Ein altes Sprichwort sagt, das sein Bild mehr sagt als tausend Worte. Das Foto des Studenten John Filo, welches später auch im Magazin Life gedruckt wurde, hat außerdem einen der besten Protestsongs alle Zeiten inspiriert. Das Foto entstand direkt nachdem ein Ohio National Guard auf eine Gruppe von Studenten geschossen hatte, die am 4. Mai 1970 an der Kent State University gegen den Vietnamkrieg protestieren. Es zeigt die Demonstrantin Mary Vecchio, die schockiert und mit offenem Mund über der Leiche des Studenten Jeff Miller kniet und realisiert, was gerade passiert ist.
Als Neil Young das Foto sah, war er erschüttert. David Crosby gab ihm eine Gitarre und Young legte all seine Wut in diesen Song. Mit Ohio zog er eine Linie in den Sand, mit der er ‘uns’ und ‘sie’ trennte. Mit Textpassagen wie “Soldiers are cutting us down/Should have been done long ago” reflektierte er die protestfeindliche Stimmung in Teilen der amerikanischen Öffentlichkeit. In der Aufnahme von Crosby, Stills, Nash & Young wirkte der Song noch stärker: Er ist impulsiv und brodelt bis zu seinem Höhepunkt, als Crosby entsetzt und wütend schreit: “Why?” Nur die allerbesten Protestsongs durchbrechen ihr ursprüngliches Thema und lassen sich auf alle möglichen Szenarien übertragen. Ohio ist ein solcher Song.
6. Robert Wyatt: Shipbuilding (1982)
Als der Produzent Clive Langer Elvis Costello eine jazz-lastige Klaviermelodie vorspielte, zu der er keinen passenden Text fand, hatte der Falkland-Konflikt zwischen Großbritannien und Argentinien 1982 gerade erst begonnen. Costellos Text, aus dem später der Song Shipbuilding entstand, beschäftigt sich mit den möglichen Auswirkungen des Konflikts auf die traditionell vom Schiffbau geprägten Gegenden im Vereinigten Königreich. Er sinniert darüber nach, ob eine Kehrtwende im Abstieg der Schiffsindustrie gegen die potentiellen Verluste im Krieg aufgewogen werden könnte (“Is it worth it?/A new winter coat and shoes for the wife/And a bicycle on the boy’s birthday”) und er blickt mit großer Sensibilität auf die Entscheidungen, die Menschen treffen, wenn ihnen die Hände gebunden sind (“It’s all we’re skilled in/We will be shipbuilding”).
Der Song wurde quasi schon für Robert Wyatt geschrieben und er singt ihn perfekt. Sein nachdenklicher Gesang passt perfekt zu dem zwiespältigen Text. Später gab Wyatt zu bedenken, dass der Song als “die Glorifizierung der Arbeiterklasse als ‘unsere Jungs’” gelesen werden könnte, “wie sie die Konservativen gerne einsetzten, wenn sie sie in eine Uniform stecken wollten”.
7. The Specials: Free Nelson Mandela (1984)
Mit Free Nelson Mandela bewies Jerry Dammers (Gründer der englischen Ska-Band The Specials), dass politische Songs gleichzeitig tanzbar sein und zum Nachdenken anregen konnten. Free Nelson Mandela klang fröhlich und positiv und die Leute tanzten … zu einer inoffiziellen Hymne der internationalen Anti-Apartheid-Bewegung. Dass ein Song mit so einer klaren und kompromisslosen politischen Aussage ein Hit werden kann, erwartet man nicht unbedingt. Aber in Großbritannien erreichte Free Nelson Mandela Platz 6 der Charts und auch in anderen Ländern, einschließlich Südafrika, war er sehr erfolgreich.
Als Free Nelson Mandela erschien, war Mandela schon 20 Jahre wegen Sabotage und Umsturzversuchen in Haft, aber der Song wurde einer der besten Protestsongs der 80er, machte den Namen Nelson Mandela bekannter und erreichte Menschen, die sich vielleicht nicht wahnsinnig für die Weltpolitik interessierten und deshalb nicht mit seiner Geschichte vertraut waren. Der Song ermutigte sie dazu, sich mit der Situation zu beschäftigen und mehr zu erfahren. Am Tag von Mandelas Freilassung im Jahr 1990 war der Song überall zu hören – eine freudige Ode an die Freiheit.
8. Bruce Springsteen: Born In The USA
Das Album Born In The USA machte Bruce Springsteen in seiner Heimat zu einem absoluten Superstar, aber vielen entgingen die gar nicht besonders subtilen Untertöne in seinem triumphal-klingenden Titeltrack. Die Originalversion des Songs, die Springsteen während der Sessions zu dem 1982 erschienenen Album Nebraska aufnahm, ist eine verirrte und rasselnde solo Rockabilly-Version, die viel besser zum Tonfall des Textes passt. Es ist die Geschichte eines Kriegsveterans aus Vietnam, der Schweirigkeiten hat, in ein bürgerliches Leben zurückzufinden und sich von der Regierung alleingelassen fühlt.
Andererseits ist die Version, zu der so viele, die nicht richtig hingehört haben, ihre Fäuste in den Himmel recken, die vielleicht effektivere, denn so erreichte die subversive Botschaft ein Publikum, das ihm in seiner ursprünglichen Form wohl keine Aufmerksamkeit geschenkt hätte.
9. Public Enemy: Fight The Power (1989)
Nach der Veröffentlichung ihres bahnbrechenden Albums It Takes A Nation Of Millions To Hold Us Back im Jahr 1988 waren die Hip-Hop Vorreiter Public Enemy die heißeste Band auf dem Planeten – geradeaus, musikalisch spannend und mit einem Finger am Puls der aktuellen Entwicklungen im schwarzen Teil Amerikas. Regisseur Spike Lee war in einer ähnlichen Position, als er She’s Gotta Have It und School Daze geschrieben und gedreht hatte. Beide Filme richteten sich direkt an ein schwarzes Publikum und machten auch keinen Hehl daraus.
Als Lee am Drehbuch zu seinem mit Spannung erwarteten Film Do The Right Thing arbeitete, wusste er schon, dass Public Enemy auf dem Soundtrack sein mussten. Der Film beschäftigte sich mit den Spannungen zwischen den ethnischen Gruppen in den Straßen New Yorks und Hank Shocklee vom Produktionsteam der Band, The Bomb Squad, sagte: “Ursprünglich wollte Spike, dass wir eine Hip-Hop Version des religiösen Songs Lift Every Voice And Sing aufnahmen. Da bat ich ihn, das Fenster aufzumachen und seinen Kopf rauszustrecken. ‘Was hörst du, Mann? Wenn da ein Auto mit offenen Fenstern an dir vorbeifährt, hörst du garantiert nicht jedesmal “Lift Every Voice And Sing”’. Wir mussten etwas machen, was die Straße widerspiegelte.”
Und das taten sie. Fight The Power ist eine explosive Collage aus Funk, Lärm und aggressiven Beats – das perfekte Fundament für den unverwechselbaren Text von Frontmann Chuck D & Co. Mit Zeilen wie “’Cause I’m black and I’m proud/I’m ready and hyped plus I’m amped/Most of my heroes don’t appear on no stamps”. Chuck selbst sagte, dass dies ihr wichtigster Song war, da er die sozialen und psychologischen Kämpfe zeigte, die die schwarzen Jugendlichen in Amerika jeden Tag auszutragen hatten.
10. Kendrick Lamar: Alright (2015)
In den Wochen vor Erscheinen von Kendrick Lamars Meilenstein To Pimp A Butterfly im März 2015 wurden die Vereinigten Staaten von zahlreichen Unruhen erschüttert. Im November 2014 hatte die Entscheidung, den Polizisten, der Michael Brown erschossen hatte, nicht anzuklagen, im ganzen Land zu Protesten geführt. Im selben Monat wurde der 12-jährige Tamir Rice auf offener Straße von der Polizei erschossen, weil er eine Spielzeugpistole in der Hand hielt. Die Black Lives Matter-Bewegung wurde jeden Tag stärker und als To Pimp… veröffentlicht wurde, machten die Demonstranten den Song Alright und seinem Ruf nach Hoffnung durch Solidarität und Widerstand, zu ihrer Hymne.
Auch unabhängig davon wurde Alright schnell zu einer Hymne und ist einer der besten Protestsongs seiner Zeit. Außerdem ist es ein beeindruckender Beleg für die Bedeutung der sozialen Medien für die Verbreitung einer Botschaft, denn Videos von Demonstranten, die fröhlich Kendricks Refrain “We gon’ be alright” sangen, verbreitete sich in null Komma nichts um den Globus. Damit unterstrich er einmal mehr, welchen Einfluss die Musik immer noch auf die Politik haben kann.
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