Anekdoten, Jubiläen und wilde Geschichten: Was an diesem Tag in der Welt der Musik passiert ist, lest ihr täglich in unserem Zeitsprung. Heute: 9.4.1860.
Hier liegt er also, der Anfang von Musikaufzeichnungen, von Radio, der CD, dem Tonfilm und der Schallplatte. In diesem verrauschten Klang, aus dem nur Eingeweihte das französische Volkslied Au Clair De La Lune erkennen können. Nach allem, was wir wissen, gelang dem Franzosen Édouard-Léon Scott de Martinville am 9. April 1860 die älteste erhaltene Tonaufnahme, 17 Jahre vor Thomas Edison.
Bis 2008 gilt der US-Erfinder Thomas Alva Edison als der Vater der ersten Tonaufnahme dank seines Phonografen und der Aufzeichnung von Mary Had A Little Lamb. Doch dann gelingt es einer Gruppe von Audiobesessenen um David Giovannoni und Patrick Feaster Scott de Martinvilles grafische Aufzeichnungen von Sound in Klang zurückzuverwandeln. Wirkt abgefahren, ist es auch.
Der Klang gibt ein dauerhaftes Bild
Blicken wir zurück in die Vorgeschichte: Im März 1857 meldet Édouard-Léon Scott de Martinville in Frankreich ein Patent für ein Gerät an, mit dem er Schall grafisch aufzeichnen kann. Er nennt es „Phonautograf“, also „Schallselbstschreiber“. Scott de Martinville, ein französischer Drucker und Buchhändler schottischer Abstammung, orientiert sich bei dem Apparat am Vorbild des Menschen, der Gesagtes in Geschriebenes verwandeln kann. Kernstück des Phonautografen ist eine Membran am Boden eines Eimers, auf der eine Schweinsborste die Aufnahme in rußgeschwärztes Papier kratzt.
„Meine Herren“, sagt der Erfinder bei einem Vortrag vom 28. Oktober 1857 vor der Gesellschaft zur Ermutigung der Wissenschaften, „ich komme, ihnen eine gute Neuigkeit zu unterbreiten: Der Klang, ganz wie das Licht, gibt ein dauerhaftes Bild. Die menschliche Stimme schreibt sich selbst in der ihr eigenen Sprache des Akustischen.“
Die Grammatik des Klangs
Was der Mann allerdings nie im Sinne hat: die Töne wiederzugeben. Er versucht immerfort, die Schrift zu lesen, um daraus eine Grammatik des Klangs abzuleiten – was ihm jedoch versagt bleibt. Erst dem Amerikaner Thomas Alva Edison gelingt es, die menschliche Stimme direkt aufzunehmen und wiederzugeben: Mary Had A Little Lamb, ein Kinderlied, krächzt im Dezember 1877 in Menlo Park, New Jersey, aus einem Phonographen-Trichter – 17 Jahre nach Scott de Martinville quasi „indirekter“ Aufzeichnung.
Der Historiker David Giovannoni macht sich deshalb daran, die Aufzeichnungen des französischen Erfinders mit Hilfe digitaler Technik zum Klingen zu bringen. Am 1. März 2008 finden er und sein Team im Institut de France, der Akademie der Wissenschaften, ein Dutzend Phonautogramme; unter ihnen auch die allererste Aufzeichnung von 1860. Giovannoni lässt die Dokumente einscannen und bringt die Datensätze nach Amerika. Dort übernehmen Earl Cornell und Carl Haber vom Lawrence Berkeley National Laboratory das optische Abtasten und die Umsetzung in Klang. Etliche Probleme gibt es zu lösen, dazu zählt die teilweise Unlesbarkeit der 150 Jahre alten Diagramme und die stark schwankende Geschwindigkeit der handkurbelgetriebenen Aufnahme.Wie ein Kreuzworträtsel
Dem Volkskundler Patrick Feaster von der Universität Indiana in Bloomington obliegt die Endbearbeitung. So ist er der Erste, der die Aufzeichnung hört – nachdem er die Nacht des 15. März 2008 vor dem Bildschirm verbracht hat: „Es war ein wenig wie ein Kreuzworträtsel, bei dem man der Sache Buchstabe um Buchstabe näher kommt. Als ich es dann um fünf Uhr morgens schließlich hatte, wurde mir klar, dass ich der erste Mensch war, der eine Tonaufnahme aus dem Jahr 1860 gehört hat. Das war schon geisterhaft.“ Wegen unklarer Angaben in den Originaldokumenten nimmt man zunächst eine falsche Frequenz der Referenzspur an, weshalb man die Stimme einer Frau zuschreibt; tatsächlich hört man die des Erfinders.
Für Scott de Martinville kommt diese Anerkennung zu spät. Als den großen Popstar der Tonaufnahme feiert man seit jeher Thomas A. Edison, etwa auf der Pariser Weltausstellung 1878, als der Phonograph die große Sensation ist – und sein Erfinder ein Medienheld.
Ein Erfinder fürchtet in Vergessenheit zu geraten
Édouard-Léon Scott de Martinville hingegen bilanziert am Ende seines Lebens: „Vor einiger Zeit, am Ende meiner Möglichkeiten und entmutigt, habe ich den Zahlungstermin für meine Patentgebühren verstreichen lassen und meine Erfindung der Öffentlichkeit übergeben. Mein Werk hat mich 8000 Franc gekostet, viel Hin und Her, Diskussionen sonder Zahl, und ich habe 700 Franc eingenommen. Heute, mit meinen sechzig Jahren, muss ich mühsam kämpfen, um meine Familie zu ernähren.“
So hat er nur noch einen Wunsch: „Ich flehe die guten Bürger an – und es gibt sie noch, Gott sei Dank –, dass sie in dieser Geschichte meinen Namen nicht vergessen, denn ich bin jetzt alt, Vater zweier Söhne, und das Einzige, was ich ihnen hinterlassen kann, ist der Ruf meines Namens.“ Édouard-Léon Scott de Martinville stirbt am 26. April 1897 in Paris an einem Schlaganfall, einen Tag nach seinem 62. Geburtstag.