Paartherapie mal anders: Als es zwischen ihnen kriselt, empfiehlt Yoko Ono John Lennon eine Affäre mit ihrer Assistentin. Die beiden flüchten von New York City nach Hollywood, wo Lennon in Rausch und Exzess versinkt. Eine Chronologie seines „Lost Weekend“.
von Björn Springorum
Eine laue Winternacht in Hollywood, kurz vor Weihnachten 1973. Es ist spät, John Lennon ist ziemlich betrunken. Er will ein paar Songs seines geplanten Cover-Albums einsingen, als endlich auch Produzent Phil Spector in die A&M Studios taumelt. Er ist ähnlich betankt wie Lennon, trägt mal wieder einen Chirurgenkittel und fuchtelt unkontrolliert mit einem Revolver herum. Nicht mit einem Exemplar der Beatles-Platte. Mit einem echten. Er feuert ihn in die Decke ab, verletzt Lennons Gehörgänge dabei. Klingt wie eine Szene aus einem Hunter S. Thompson-Buch? Nee, ist nur John Lennons ganz normales Leben zu Beginn der Siebziger.
Frustration, FBI, Flops
Ende 1973 befindet sich Lennon mitten in seinem „Lost Weekend“, wie er jene 18 Monate später in Anlehnung an Charles R. Jacksons Alkoholiker-Chronik von 1944 nennen sollte. Dem vorausgegangen war kein einfaches Jahr für den ehemaligen Beatle. Sein Album Some Time In New York City floppte, er hat massive Eheprobleme mit Yoko Ono, wird aufgrund seines politischen Aktivismus vom FBI überwacht und findet keine Ruhe mehr. Dann, im Sommer 1973, unterbreitet Ono ihrem geplagten Mann einen ungewöhnlichen Vorschlag: Eine Affäre mit ihrer Assistentin, Mary Pang, mit der Lennon schon an seinem Album Mind Games gearbeitet hatte und die ihm, sagen wir, recht gut gefiel. „Ich brauchte einfach mal Pause“, sagt Ono später dazu. „Ich brauchte Raum zum Atmen. Können Sie sich vorstellen, jeden Tag diesen Hass der Leute zu spüren? Man will da einfach nur raus.“
Lennon lässt sich das offensichtlich nicht zweimal sagen. Und türmt im Oktober mit Pang in ein angemietetes Haus nach Los Angeles. Was folgt, sind 18 haltlose Monate ohne Rücksicht auf Verluste, ohne Verpflichtungen, ohne Regeln. Und somit auch Lennons zügige Rückkehr an die Flasche und zu den Drogen – beides Suchtmittel, die er an der Seite Yoko Onos mehr als gut im Griff hatte.
Er hat einen Revolver!
Jetzt, unter den Palmen der Westküste und inmitten der Verlockungen des Sündenpfuhls Hollywood, gibt es kein Halten mehr für John Lennon. Er trinkt, er trinkt, er trinkt noch mehr; aber er ist auch musikalisch ziemlich kreativ. Die Arbeiten mit der berüchtigten Produzentenlegende Phil Spector an dem Album, was 1975 als Rock 'n' Roll erscheinen soll, sind ein guter Spiegel dieser Zeit: Lennon überlässt Spector die volle künstlerische Kontrolle, weil er sich nur auf seinen Gesang konzentrieren will. So einer wie Spector lässt sich das nicht zweimal sagen. Kontrollfreak, der er ist, reißt er die Herrschaft des Projekts an sich, nahm die Bänder des Tages jeden Abend unbemerkt mit nach Hause. Hat wohl seinen Grund, dass Leonard Cohen Spector schon mal mit Hitler verglich.
Im Studio tobt der Wahnsinn. Whisky wird über den Konsolen ausgeleert, der ganze besoffene Tross aus dem Studio geschmissen. Spector verschwindet mit den Bändern – und gibt sie erst Monate später raus. Wenn man bedenkt, dass der Produzent bis heute wegen Mordes hinter Gittern sitzt, bekommt man eine ungefähre Vorstellung von der Brisanz dieser Sessions. In Lennons „Lost Weekend“ sind sie allerdings nur eine von vielen haarsträubenden Anekdoten. https://www.udiscover-music.de/popkultur/wie-paul-mccartney-und-john-lennon-zusammen-masturbiertenEine weitere ist seine Beziehung zum Liedermacher Harry Nilsson, einen notorischen und fleißigen Trinker, der auch dem weißen Pulver nicht abgeneigt war. An einem ihrer ausufernden Trinkgelage am 13. März 1974 (es gab wohl reichlich Brandy Alexanders) schleppen sich Nilsson und Lennon ordentlich stramm zu einem Konzert der Smothers Brothers im legendären Troubadour auf dem Santa Monica Boulevard. Lennon unterbricht die Show der Comedians wüst und respektlos, zimmert dem Manager der Smothers Brothers gepflegt eine rein, als der ihn um Ruhe bittet. Ein echtes Vorbild der Gallagher-Brothers, sagen wir jetzt mal.
Der letzte Song mit McCartney
Kaum zwei Wochen später schlägt das Pop-Barometer dann in die vollkommen andere Richtung aus: Lennon produziert Nilssons Album Pussy Cats, lädt dazu Ringo Starr und Keith Moon (noch so ein Flaschenkumpel dieser Zeit) in ein Strandhaus nach Santa Monica Beach ein, um gemeinsam kreativ zu sein. Am 28. März 1974 tauchen urplötzlich Paul McCartney und Stevie Wonder auf dem Anwesen auf. Es sollen die letzten gemeinsamen Aufnahmen von Lennon und McCartney sein – mit McCartney an den Drums und Gesang und Lennon an Gesang und Gitarre. Auch hier war es eher die Abwesenheit von Nüchternheit und eine nicht näher bestimmbare Menge weißen Pulvers, die die Aufnahmen chaotischer und unprofessioneller gestaltete, als es dieses Line-Up verdient. Dennoch: Die surreale, psychedelische Stimmung der Platte hat was.
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Schüsse aus einem Revolver, Streitereien, Drogenexzesse, Besäufnisse mit Keith Moon und Harry Nilsson… irgendwann wird es selbst John Lennon zu viel. Er produziert noch eine Nummer für Mick Jagger, dann flieht er zurück in seine Heimat New York City, wo er sich sogleich in die Arbeit stürzt. Heraus kommt im Oktober 1974 mit Walls And Bridges ein bitter nötiges Comeback, das mit Whatever Gets You Thru The Night seinen einzigen Nummer-eins-Hit in den USA enthält. Mit Elton John, der auch in der Nummer zu hören ist, tritt er am 28. November überraschend im Madison Square Garden auf. Lennon ist wieder auf Spur: Im Januar schreibt er mit David Bowie Fame, auch dessen erste Nummer eins in den Vereinigten Staaten, steuert zugleich Gitarre und Backgroundgesang bei.
Fehlt natürlich nur noch eins: Die Versöhnung mit Yoko Ono. Und die läuft so gut, dass am 9. Oktober 1975, Lennons 35. Geburtstag, ihr einziger gemeinsamer Sohn Sean Lennon zur Welt kommt. Er hat genug von Drogen und Besäufnissen, zieht sich zurück, um sich um Sean zu kümmern. Das „Lost Weekend“ ist nach 18 turbulenten Monaten zu Ende. Die letzten fünf Jahre von John Lennons Leben haben begonnen.