Koreanische Popmusik hat dank Bands wie Blackpink, BTS, Stray Kids oder Twice schon längst die Welt erobert – trotzdem bekommt K-Pop noch immer viel Hate. Meistens von Leuten, die sich nie richtig mit K-Pop befasst haben, aber ein paar gängige Vorurteile wiederkäuen. Genau die schauen wir uns hier mal an – und versprechen, dass in Zukunft auch mehr K-Pop auf The Circle seinen Platz findet.
„Die sind doch alle gecastet!“
Ja, das stimmt. Ist bloß die Frage, was daran so schlimm sein soll. Es gibt halt Bands, die sich in Proberäumen, Indie-Bars, in der Schule, an der Uni oder im Internet finden – und Bands, die gecastet, ausgebildet und dann zusammengestellt werden. Hierzulande denkt man dabei natürlich schnell an Formate wie „Popstars“ oder an die Zeit der 90s Boy- und Girlgroups, die oft von shady Managern gecastet wurden.
Im K-Pop funktioniert das alles bedeutend strukturierter: Im Zentrum dieses Systems stehen Produktionsfirmen wie YG (Blackpink, Bigbang, Treasure), JYP (Stray Kids, Twice, Itzy, NMIXX), SM (NCT, Red Velvet, Shinee) und HYBE Labels (die früher Big Hit Entertainment hießen und BTS groß gemacht haben), um nur die vier größten zu nennen. Diese Firmen kann man sich als eine Mischung aus Label, Marketingagentur, Musikproduktionsfirma, Songwriting Camp und Musikschule vorstellen.
Diese Firmen organisieren regelmäßig Auditions. Meistens in Südkorea, aber auch in Japan, Thailand, Amerika und Europa. Die Altersspanne der dort auftretenden jungen Menschen rangiert dabei im Durchschnitt zwischen 14 und 18 – was natürlich wirklich sehr jung ist. Wer angenommen wird, durchläuft in Südkorea als Trainee eine Art Ausbildung, um – wenn alles gut läuft – K-Pop-Star zu werden. Die nennt man dann Idols. Das kann man sich ein wenig vorstellen, wie in der Jugendförderung des Profifußballs, die ja ähnlich früh ansetzt.
Statt Schule plus Sportinternat, gibt es als „Trainee“ eine wirklich fordernde (aber auch kostenintensive) Ausbildung in Tanz, Gesang, Mimik, Interviewtraining. Das Idol-System setzt dabei auf einen harten internen Wettbewerb unter den Idols – und adaptiert damit das Mindset der koreanischen Schulausbildung und Berufswelt. Wie eine Band heißt und zusammengesetzt ist, entscheidet sich tatsächlich oft in den Konferenzräumen der Produktionsfirmen oder gar vor laufenden Kameras. Die K-Pop-Welt ist eine wichtige Säule der koreanischen TV- und Entertainment-Industrie, da liegt es nahe, dass die ein oder andere Band im Rahmen von TV-Shows entsteht. Oft sind das sogenannte „Survival Shows“, in denen Idols – ähnlich wie bei „The Voice“ oder „DSDS“ – gegeneinander antreten müssen und dabei per Jury-Entscheid oder Voting rausfliegen können. Die derzeit erfolgreichste aktive K-Pop-Boygroup (bis BTS ihr Comeback ankündigen) Stray Kids entstand hingegen in einem Showkonzept, dass eher die Stärken der Teilnehmenden, ihre Songwriting-, Produktions- und Performance-Skills herausarbeitete.
Dieses System kann man mögen oder nicht – aber es ist nun mal nicht von der Hand zu weisen, dass im Idealfall Performer:innen hervorgebracht werden, die einem die Kinnlade runterklappen lassen, wenn sie in Topform sind. K-Pop funktioniert sehr visuell über die oft faszinierenden Choreografien, die jeden Part eines Songs mit Bewegung begleiten. Und mal im Ernst: Wer sich zum Beispiel ein BTS-Video wie dieses anschaut, muss ehrlicherweise sagen, dass die Backtreet Boys im Vergleich eher Grobmotoriker sind:
„Die Idols werden unmenschlich gedrillt!“
Wir wollen hier natürlich nix sugarcoaten: Das Idol-System ist hart, und es gibt immer wieder unschöne Geschichten über die Ausbeutung junger Talente, über das hohe Trainingspensum, über die psychologischen Herausforderungen der Konkurrenz-Situation, über strikte Vorgaben, was Privatleben und Ernährung angeht und über das Pushen von unrealistischen Schönheitsidealen. Wer will, findet all diese Geschichten.
Was man aber auch wissen muss: Idol zu werden, ist in der südkoreanischen Kultur – aber z. B. auch in Japan, Thailand und Indonesien – ein Lebenstraum und ein ehrenwerter Traumjob. Außerdem kann man vieles, was man dem Idol-System vorwirft, im Grunde der kompletten südkoreanischen Gesellschaft attestieren: der Leistungsdruck ist hoch, vieles in Leben und Karriere auf Einzelkämpfer:innen ausgerichtet, es gibt Sexismus, veraltete Rollenmuster, viele creepy Männers und Generationenkonflikte. Das alles spiegelt sich auch in der Idol-Ausbildung. Wobei K-Pop-Expter:innen und vor allem die Fans schon Besserungen zu erkennen glauben. Was auch an der Wachsamkeit und Online-Schlagkraft der K-Pop-Fan-Community liegt, die solche Dinge auch mal offensiv outcalled.
Wer die leider immer noch recht seltene Gelegenheit hat, mal ein erfolgreiches Idol zu interviewen, hört allerdings meistens bei aller Härte auch Dankbarkeit. Lisa von Blackpink sprach zum Beispiel Anfang des Jahres mit dem Autor dieses Textes über ihre Trainee-Zeit, für die sie mit 14 allein von Bangkok nach Seoul zog. Sie habe nur alle 14 Tage mal einen Sonntag wirklich frei gehabt, aber sie habe es eben auch geliebt, sich tagelang mit Tanz, Rap und Gesang zu befassen – und sie habe in dieser Zeit viele Freund:innen gefunden.
Wer mal reinschnuppern will, wie es in der Trainee-Zeit zugeht, dem:der sei die Netflix-Doku Blackpink: Light Up The Sky empfohlen. Die ist natürlich – wie alles, was K-Pop-Acts nach außen tragen – von der Produktionsfirma abgesegnet, aber die vier Frauen reden schon recht offen über diese Zeit. Auch bei Netflix kam im letzten Jahr die Doku Pop Star Academy, wo man sehen kann, wie die BTS-Produktionsfirma HYBE mit dem US-Label Geffen eine neue Girlgroup zusammenstellt, die nach K-Pop-Methoden ausgebildet wird. Bandmitglied Sophia erzählte dem Autor über diese Erfahrung: „Als ich ins Programm kam und anfing, das zu erleben, was die Idols täglich durchmachen, wuchs mein Respekt vor ihnen ins Unermessliche. Man hörte ja immer wieder, wie hart Idols arbeiten, einige von ihnen sogar fünf bis sieben Jahre, um überhaupt mal die Chance eines Debüts zu haben. Ich habe immer gedacht: Klar, die trainieren jeden Tag. Tanzen stundenlang. Singen. Büffeln Choreografien. Aber wenn du selbst drinsteckst und weißt, wie diese Tage gefüllt sind, ist es eine ganz andere Erfahrung.“
„Das ist doch cheesy Teenie-Mucke!“
Dieses Vorurteil ist meistens die erste Reaktion, wenn man jemandem erzählt, man interessiere sich für K-Pop. Oft kann man es mit der richtigen Playlist entkräften, oder aber man schaut sich einfach mal ein K-Pop-Konzert an. Klar, es gibt auch viele Teenager:innen, die K-Pop lautstark feiern, aber die meisten Fans sind zumindest bei europäischen Konzerten eher so in der Range von 16 bis Ende zwanzig zu finden. Es ist oft eine sehr weiblich und queer geprägte, sehr sanges-, kreisch- und tanzfreudige Crowd, der vor lauter Fanliebe schon mal die Contenance verloren geht, die aber zu einem großen Teil mit zu den angenehmsten Crowds in der aktuellen Konzertwelt zählt.
Künstlerisch betrachtet ist der Satz auch nur die halbe Wahrheit. Ja, es gibt Musik, die auf ein sehr junges Publikum ausgerichtet ist und viele K-Pop-Songs und Balladen, die man durchaus als cheesy bezeichnen kann (was man ja auch mögen kann). Aber es gibt auch zahlreiche irre und irre gute K-Pop-Banger, die oft klingen, als würden ein halbes Dutzend Stile aufs schönste ineinander crashen, bevor dann ein Chorus kommt, den man auf Wochen nicht aus dem Kopf bekommt.
Wer genau schaut, und zum Beispiel die Songwriting- und Produzent:innen-Credits im Blick hat, sieht auch, dass dieser Prozess im K-Pop – ähnlich wie im amerikanischen Mainstream-Pop – inzwischen Mannschaftssport ist. Dabei hat K-Pop allerdings schon seit Jahren immer wieder die Nähe zu guten Indie- und Underground-Protagonist:innen gesucht, um neue Eindrücke zu kriegen. Neben koreanischen stehen vor allem schwedische Songwriter:innen hinter vielen K-Pop-Hits der letzten Jahren – und es gibt spannende Zusammenarbeiten mit krediblen Acts von Boys Noize (der schon vor Jahren mit K-Pop-Rap-Legende G-Dragon einen Track machte) bis hin zum schwedischen Indie-Darling Erika de Casier, die ihren Liquid Drum’n’Bass mit der Girlgroup New Jeans auf ein neues Level brachte. Überhaupt empfehlen wir euch einfach mal, Bands wie die bereits genannten, oder Twice, Le Sserafim, Ateez, NMIXX oder i-dle auszuschecken. Da gibt es haufenweise Videos und Songs, die man als Pop-Fan eigentlich nur lieben kann – auch wenn man anfangs vielleicht ein wenig überfordert ist von der visuellen Wucht, dem Koreanisch-Englisch-Mix der Lyrics, den Stilbrüchen und den wilden Fashion Styles.
„K-Pop ist ein reines Industrie-Produkt!“
Es ist nicht ganz leicht, dieses Vorurteil zu entkräften, nachdem bisher recht deutlich wurde, dass die koreanische Musikindustrie sehr gut aufgestellt ist und die Produktionsfirmen große kreative Macht haben. Trotzdem liegen die Ursprünge des K-Pop, wie wir ihn heute kennen, in einem zutiefst subkulturellen Moment.
Den kann man sogar ziemlich genau benennen: Als Jeong Hyeon-cheol alias Seo Taiji Anfang der 90er-Jahre mit Yang Hyun-suk und Lee Juno die Band Seo Taiji And Boys gründete, schockten die drei die Musikindustrie Südkoreas. Die setzte zu der Zeit noch auf patriotisch angehauchte Folk-Balladen, Hymnen für die noch sehr junge Demokratie, und Herzschmerz-Schmachtfetzen nach Vorbildern wie Barbra Streisand oder Lionel Richie. Koreanische Mainstream-Musik war dabei vor allem ein Fernsehthema: Die großen TV- und Radio-Sender veranstalteten Musikrevuen und Formate, die den heutigen Castingshows sehr ähnlich waren. Genau dort gaben Seo Taiji And Boys, auf dem Sender MBC, am 11. April 1992 ihr TV-Debüt. Seo Taiji – Sänger, Produzent und Songwriter – hatte zuvor in der noch heute aktiven Rockband Sinawe gespielt, sich für sein neues Projekt aber noch Tanzen, B-Boy-Style und HipHop-Beats draufgeschafft. Ihr erster Song hieß Nan Arayo, übersetzt „I Know“, und klang wie eine Kreuzung aus Snap! und den Beastie Boys auf Koreanisch.
Die Jury hasste es. Sie bemängelte den aggressiven, ungelenken Tanzstil und die Melodiearmut des Stücks. Doch bei der jungen Generation trafen Seo Taiji And Boys einen Nerv. Sie brachten das Interesse an aktueller US-Musik mit einer eigenen koreanischen Identität zusammen und setzten den Grundstein für den internationalen Siegeszug des K-Pop.
Eine weitere Entkräftung dieses Vorurteils wäre die schlichte Erkenntnis, dass eigentlich die meisten im großen Stil erfolgreichen Artists ab einem gewissen Punkt auch Industrie-Produkte werden, oder sich als solche vermarkten müssen. K-Pop ist da einfach ein wenig ehrlicher: Hier inszeniert sich kein Major-Act oder Nepo-Baby als Indie-Artist, hier „arbeiten“ die Idols im Dienste der Sache, einen perfekten (und gut laufenden) Popsong zu performen. Dabei gibt es auch viele Idols, die als Produzent:innen und Songschreiber:innen sehr aktiv einbezogen sind – Jeon So-yeon von i-dle zum Beispiel, SUGA von BTS oder Bangchan von Stray Kids.
K-Pop im Circle Store:
Last but not least sorgt die Fankultur dafür, dass eben verdammt viel Leben in diesen vermeintlichen Industrieprodukten steckt. Wer einmal die Leidenschaft einer K-Pop-Crowd erlebt hat, oder in die Highlights und Abgründe der Internet-Fan-Kultur-Diskussionen empor- oder hinabgestiegen ist, stellt fest, dass hier eine Herzenssache und kein Produkt verhandelt wird.
„Da gibt’s doch ständig Skandale und Suizide!“
Ein ernstes Thema zum Schluss: Diesen Satz hört man als K-Pop-Fan sehr oft, obwohl auch Rap und Pop und eigentlich die gesamte Musikindustrie nicht gerade arm sind an Skandalen. Die gibt es im K-Pop tatsächlich hin und wieder – und der räudigste von ihnen ist sicherlich der Skandal um den Club „Burning Sun“, der viele dunkle Seiten der koreanischen Unterhaltungsindustrie aufzeigt. Mit Blick auf die globale Musikindustrie ist der Anteil explizit koreanischer Skandale mitnichten höher – aber sie scheinen eine überproportional hohe Faszination auszulösen. Wenn es sich denn wirklich um Vorfälle handelt, die das Wort „Skandal“ verdienen – das Wort sitzt auch bei Fan-Auseinandersetzungen recht locker.
Bleibt die Sache mit den Suiziden, die wir hier eigentlich nicht in der Tiefe erläutern können, die das Thema verdient hat. Tatsächlich gibt es einige tragische Fälle, bei denen Idols, Ex-Idols oder Trainees Suizid begangen haben. Die einzelnen Schicksale sind natürlich individuell zu betrachten, aber wenn man mit diesem Vorurteil kommt, muss man auch den eigentlich wahren Kern benennen: Selbsttötung zählt in Korea zu den häufigsten Todesursachen, noch vor Verkehrsunfällen oder Kreislauferkrankungen. Allein in den Jahren 2021 bis 2023 Jahren haben sich fast 40.000 Menschen das Leben genommen – vor allem die Suizidrate unter jungen Menschen ist dabei alarmierend. Auch hier ist – wie bei vielen der genannten Vorurteilte – der gesellschaftliche Kontext wichtig.
Um mit einer positiven Note zu enden: K-Pop macht als Musik und als Szene einen Heidenspaß, wenn man sich erst einmal darauf eingelassen hat. Deshalb werden wir bei The Circle in Zukunft regelmäßig darüber berichten. Für einen Überblick der aktuellen K-Pop-Hits können wir euch zum Schluss noch diese Playlist ans Herz legen: