Am 18. September 1983 zeigen sich Kiss mit großem Tamtam zum ersten Mal ohne ihr legendäres Make-up. Nach fast zehn Jahren hatte sich die Faszination für Schminke und Heimlichtuerei doch abgekühlt. Die New Yorker starten damit eine Phase erneuten Erfolges, doch auf Dauer funktioniert das alles nicht. 1996 legen Kiss die Maskerade wieder an – und genau genommen müssen sie es auch…
von Christof Leim
Hier gibt es die besten Kiss-Songs:
Sicher, Kiss durchlebten goldene Zeiten unter ihrer schwarzweißen Schminke. In den Siebzigern hatte sich das Quartett zu einem ebenso erfolg- wie einflussreichen Phänomen entwickelt – mit Platinalben, ausverkauften Riesenshows und einem millionenschweren Merchandise-Imperium. Die vier Gesichter von Demon, Starchild, Spaceman und Catman sah man überall, auf Flippermaschinen, Butterbrotdosen und Comics. Sogar eine Kiss Army gründete sich. Nicht wenig dieses Höhenfluges hat unmittelbar mit dem ikonischen Image von Paul Stanley, Gene Simmons, Ace Frehley und Peter Criss zu tun. Dass sie die Kriegsbemalung überhaupt ablegen, kommt jedoch nicht von ungefähr.
Denn natürlich läuft das nicht ewig so: Es gibt Streitereien innerhalb der Band, weswegen 1978 am gleichen Tag mit durchwachsenem Erfolg vier egostreichelnde Soloalben erscheinen. Außerdem wird ein ambitionierter Kinofilm zum trashigen Rohrkrepierer. Und als dann die vier Helden noch ihr Publikum aus den Augen verlieren, geht es bergab, Schminke hin oder her.
Weshalb das Make-up bei Kiss überhaupt verschwand
Die Kurzfassung sieht so aus: Kiss wurden, wie wir wissen, mit ruppigem Hard Rock und spektakulären Shows berühmt. Das 1979er-Album Dynasty allerdings spült weich und wirft ausgerechnet eine Disconummer (genau: I Was Made For Lovin’ You) als Hit ab. Zu den Konzerten kommen immer weniger Leute, davon aber immer mehr Kinder mit ihren Eltern. Auf Unmasked treiben Kiss 1980 ihre Comic-Haftigkeit sogar auf die Spitze und packen eine kleine Bildergeschichte auf das Cover. Die Songs bieten zwar tollen Power Pop, aber den will die Kiss Army nicht hören. Peter Criss trommelt bald schon gar nicht mehr mit, Eric Carr übernimmt, Leadgitarrist Ace Frehley verliert zusehends die Lust, und mittlerweile knirscht es so richtig im Gebälk. Zu Unmasked spielen Kiss nur eine einzige US-Show, aber immerhin eine erfolgreiche Australien- und Europatour (letztere mit einer ganz netten Newcomer-Kapelle namens Iron Maiden im Vorprogramm).
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Danach drehen unsere Helden ganz durch: 1981 überraschen sie mit (Music From) The Elder, einem wirren Fantasy-Konzeptalbum mit Bläsern, Streichern und Falsett, das sang- und klanglos untergeht. Daraufhin hat Ace dann gar keinen Bock mehr, nimmt sein Schminktäschchen und steigt ebenfalls aus. Es muss wieder gerockt werden, allerdings kann das erquicklich harte Creatures Of The Night (1982) mit Vinnie Vincent an der Soloaxt nicht so an alte Erfolge anknüpfen, wie die beiden Chefs Paul und Gene sich das wünschen.Viele Hallen der folgenden Tour bleiben halbleer, Creatures schafft es anfangs nicht mal zum Goldstatus. Außerdem drängen neue Bands auf den Markt; besagte Iron Maiden etwa liefern in ihrer britischen Heimat sogar ein Nummer-eins-Album ab. Es muss etwas passieren…
Runter mit der Schminke. Alles gut jetzt?
Eine kleine Trumpfkarte hat die Band noch: Die Enthüllung ihrer wahren Gesichter. Natürlich tauchten über die Jahre immer wieder „unbemalte“ Fotos auf, schon 1974 waren Kiss überlistet und „en naturelle“ abgelichtet worden. Doch die meisten Fans wissen nicht, wie ihre Helden in echt aussehen. Für Simmons und Stanley hat sich die Sache mit dem Make-up ohnehin totgelaufen, der Gag ist erzählt, jeder kennt es.
Also zeigen sich Kiss in der Mark-III-Besetzung (Simmons, Stanley, Carr, Vincent) am 18. September 1983 auf MTV mit viel Trommelwirbel zum ersten Mal ohne Schminke. Zeitgleich erscheint das Album Lick It Up. Kiss spielen jetzt typischen Achtziger-Hard-Rock, und endlich platzt der Knoten: Die Videos laufen auf Headbanger’s Ball, und für die Verkäufe gibt es wieder Goldauszeichnungen. Animalize (1984) und Asylum (1985) setzen mit Hitsingles wie Heaven’s On Fire noch einen (bzw. zwei) drauf und verkaufen sich millionenfach. (Im Vorprogramm spielt damals übrigens eine weitere ganz nette Newcomer-Kapelle namens Bon Jovi.)
So sahen Kiss 1988 aus. Zum Glück in schwarzweiß. Und hier liegt das Problem: Kiss können zwar wieder Edelmetall einfahren, doch sie sind mittlerweile eine Band unter vielen mit ähnlichem Stil. Damit meinen wir nicht nur die schreiend bunten Klamotten und obligatorisch raumgreifenden Frisuren, sondern vor allem die Songs. Denn Kiss haben sich, unbestreitbare Qualität hin oder her, von Wegbereitern zu musikalischen Mitläufern entwickelt. Das wird noch schlimmer, nachdem 1986 die einstige Supportband Bon Jovi von Slippery When Wet Fantastillionen Exemplare verkauft und Kollege Ozzy Osbourne mit dem aalglatt produzierten The Ultimate Sin ebenfalls Erfolge feiert.Eine unter vielen
Jetzt steigen Kiss – beziehungsweise Paul Stanley, der die Band wegen Simmons’ Hollywood-Ambitionen de facto alleine führt – komplett auf den radiofreundlichen Pop Metal-Zug auf. Crazy Nights soll ein kommerzieller Megakracher werden, für den die Band sogar ein ganzes Jahr auf Produzent Ron Nevison wartet und haufenweise Keyboards ins Studio schleppt. Doch so ganz zündet das nicht, selbst wenn die Singles schön auf MTV laufen. Crazy Nights schlägt sich respektabel, kann aber mit im gleichen Jahr veröffentlichen Gassenhauern wie Hysteria von Def Leppard und Girls Girls Girls von Mötley Crüe nicht mithalten. Der nächste Versuch Hot In The Shade (1989) kann trotz toller Songs und etwas weniger Bombast/Zuckerwatte ebenfalls nicht mehr reißen.
Wir sehen also: Ohne Make-up haben sich Kiss mit Anstand durch die Achtziger gerockt, standen aber nicht mehr unangefochten an der Spitze der Nahrungskette. Folglich darf man bezweifeln, dass das mit der Schminke überhaupt funktioniert hätte.
In den Neunzigern wird’s schwierig für Kiss
Aber einen haben sie noch: Als mit dem Beginn der Neunziger ein härterer Wind durch das Genre weht, schmeißen Kiss sich in Lederklamotten, werfen die Keyboards über Bord und hauen mit Revenge (1992) ihr härtestes und bestes „ungeschminktes“ Album raus. Doch die Welt hat sich schon weiter gedreht: Grunge und Crossover bringen frische Sounds und ändern die Geschmäcker maßgeblich. Viele Veteranen der Siebziger und Achtziger haben einen schweren Stand, Kiss bilden da keine Ausnahme. (Wobei man das natürlich relativ sehen muss: Auch wenn es den vier Musikern finanziell sicher gut geht, Megastar ist keiner mehr.)
Wie sehr die Grunge-Welle das Selbstverständnis traditioneller Hard-Rocker durcheinander wirbelt (oder positiv formuliert: die Musiker inspiriert), sieht man am nächsten Kiss-Studioalbum: Carnival Of Souls entsteht Ende 1995 und klingt deutlich härter und signifikant düsterer. In Songs wie Hate, Rain und Childhood’s End geht es nicht um Wein, Weib und Gesang, It Never Goes Away erinnert sogar an das Doom-Urmanifest Black Sabbath (kein Witz, ist aber geil). Vielleicht sind ein paar Takte in Master & Slave sogar noch bezeichnender: Bei 1:44 Min. starten Kiss ein markantes 7/8-Riff, das fast eins zu eins dem Hauptthema von Them Bones entspricht, der Eröffnungsnummer von Alice In Chains’ The Dirt (1992)…
So kann es dann doch nicht weitergehen. Sollen unsere Helden sich völlig dem Zeitgeist anpassen? Oder einfach drauf pfeifen und weiter tollen Party-Hard Rock machen, den allerdings keiner so recht hören will? Oder sich eingraben und abwarten? Das taugt alles nichts, zumindest nicht, wenn man „the hottest band in the land“ sein will. Womöglich denken Kiss damals wie viele Kollegen darüber nach, den Laden einfach dicht zu machen. Aber vielleicht lässt sich ja das Profil auch wieder so schärfen, dass die Konkurrenz und die Sounds der Stunde völlig egal sind…
Dann eben wieder mit Make-up
Es gibt in der Tat noch eine Möglichkeit: Mitte der Neunziger steigt das Interesse an der Geschichte der Schminkemonster, eine Nostalgiewelle bricht sich Bahn. Auf Kiss My Ass: Classic Kiss Regrooved zollen 1994 Künstler wie Lenny Kravitz, Garth Brooks und Anthrax ihren Jugendhelden Tribut; im darauffolgenden Jahr nehmen Simmons, Stanley und Co. selbst an der Worldwide Kiss Convention Tour teil. Das heißt Fan-Veranstaltungen, die die goldenen Zeiten feiern und Sammlern feuchte Augen bescheren. Die Band spielt dabei akustisch. Am 17. Juni 1995 singt sogar Peter Criss zwei Songs mit.
Schon Anfang der Dekade hatten sich Unplugged-Konzerte als erfolgreich erwiesen, und auch Kiss machen bei der Reihe auf MTV mit. Aber eine Besonderheit, ein Bonbon fehlt noch, damit daraus nicht nur eine weitere Stromlos-Party wird. Die Antwort liegt auf der Hand: Bei der Aufzeichnung am 9. August 1995 in New York kündigt Paul Stanley den Zugabenteil mit folgenden Worten an: „We’ve got some members of the family here tonight. We’re talking about Peter Criss and Ace Frehley!“ Damit steht (in diesem Fall: sitzt) das Ur-Line-up von Kiss zum ersten Mal seit 1979 wieder auf einer Bühne. (Die beiden etatmäßigen Mitglieder Bruce Kulick an der Gitarre und Eric Singer an den Drums spielen übrigens auch – noch – mit.)
Der Rest ist Geschichte: Dieser kurze Auftritt inspiriert Spekulationen, Gerüchte und nicht wenige Fan-Wunschträume, das fertige Carnival Of Souls wird eingemottet (und erst 1997 veröffentlicht). Am 28. Februar 1996 platzt die Bombe bei der 38. Grammy-Verleihung, als Kiss nicht nur in Urbesetzung, sondern in vollem Ornat vor die Kameras treten – mit Plateauschuhen, Nieten, Glitzer und natürlich dem legendären Make-up.
Schließlich geht die Reunion und Wiederbemalung durch die Decke. Wie die Band in die Szene der Zeit passt und mit der Konkurrenz mithalten kann, interessiert niemanden mehr. Die Schminkemonster sind in aller Munde, die folgende Tour spielt Millionen ein. Unkompliziert läuft das auch nicht ab, aber ihr kulturelles Überleben an der Spitze haben sich Kiss damit gesichert.