Mark Knopfler im Interview: „Die Tyne-Brücke ist ein perfektes Symbol für mein Leben“
popkultur12.04.24
Der River Tyne ist für Mark Knopfler mehr als nur ein Fluss. 1949 im schottischen Glasgow geboren, zog Knopfler mit seiner Familie als Kind in die englische 300.000-Einwohnerstadt Newcastle upon Tyne, wo er aufwuchs. In seinen Zwanzigern sollte es ihn wieder auf die andere Seite des Flusses ziehen – genauer gesagt nach London, wo er 1977 die Dire Straits gründete und zum Superstar avancierte.
von Markus Brandstetter
Die Dire Straits sind längst Geschichte, Knopfler ein etablierter Solokünstler mit einer umfangreichen, an Highlights reichen Diskografie. Geblieben ist das euphorisch-melancholische Gefühl, wenn der heute 74-Jährige wieder einmal die Tyne-Brücke überquert. Dieser setzt er mit seinem neuen, zehnten Studioalbum One Deep River ein Denkmal.
Aufgenommen in Knopflers British-Grove-Studios zeigen sich die Gitarrenlegende und seine eingesessene Band in gewohnter Spiellaune. Ein weiterer Faktor, der sich über all die Jahre nicht geändert hat: Auch mit 74 ist es immer für Knopfler noch das Größte, mit der Band abzuhängen. Er selbst gilt als einer der größten und unverkennbarsten Gitarristen der Musikgeschichte, sieht sich selbst aber gar nicht als besonders guten Musiker, wie er in unserem Gespräch erklärt.
Mark, auf dem Frontcover deines neuen Albums One Deep River ist die Brücke des Tyne zu sehen. Das Überqueren des Tyne hat für dich ja eine wichtige biografische Bedeutung. Welche Gefühle hast du, wenn du über die Brücke fährst, sei es rein nach Newcastle, wo du aufgewachsen bist, oder wieder raus?
Das hat für mich mittlerweile längst etwas Mythisches, oder sagen wir zumindest Semimythisches. Diese Brücke ist ein perfektes Symbol für mein Leben. Weißt du, wenn du in einer Stadt wie Newcastle upon Tyne groß wirst, dann wirst du diese Stadt irgendwann mal verlassen und nach London gehen. Du musst die Stadt verlassen, um wiederzukommen – und du musst wiederkommen, um die Stadt wieder zu verlassen. Diese Reise ist immer da, sie ist nie allzu weit weg. Man hat sie immer im Hinterkopf. Jedes Mal, wenn man zurückkehrt, sitzt man im Zug und sieht diesen Fluss. Mittlerweile kann ich mir ja glücklicherweise Zugtickets leisten. Wenn ich nach Newcastle zurückkomme, gehe ich immer ans Ende des letzten Zugabteils und schaue über die Brücke auf den Fluss. Es hat einfach immer noch eine große Bedeutung für mich. Schau mal, ich habe mir vor kurzem diese Gitarre machen lassen [Knopfler zeigt eine Akustikgitarre, die als Inlay auf dem zwölften Bund eine aus Perlmutt gemachte Tyne-Bridge eingearbeitet hat, Anm. d. A.]
Die sieht fabelhaft aus! Und was liegt auf der anderen Seite des Tyne für dich?
Ich bin heute mit Londontown verheiratet. Ich lebe schon jetzt so viele Jahre hier und habe mein Studio hier. Ich hatte eine Liebesaffäre mit London, seit ich ein Teenager war. Eine Romanze. Ich hatte auch immer Romanzen mit anderen Orten, aber hier kommt für mich alles her. Hier habe ich mein Studio. Ich muss nicht mehr reisen, um Musik aufzunehmen, ich kann mittlerweile alles wenige Kilometer weg von meinem Zuhause erledigen. Und es ist wundervoll. Ich hatte in meinem Studio noch nie einen schlechten Tag!
Deine British Grove Studios sind längst ein renommierter Aufnahmeort für viele andere bekannte Künstler*innen. Wie sieht dein eigener Arbeitsprozess dort aus?
Wenn andere Künstler*innen dort arbeiten, lasse ich sie immer in Ruhe. Sie sollen machen, was auch immer sie machen wollen. Aber wenn mal Zeit ist und ich meine eigene Band dort zusammentrommeln kann, ist das für mich und für uns alle immer ein Höhepunkt. Das geht aber nicht immer. Manchmal arbeite ich auch nur mit Guy [Fletcher, Knopflers langjähriger musikalischer Partner, Anm. d. A.]. Guy war ja mal Assistent in Aufnahmestudios. Er liebt den Aufnahmeprozess innig. Es ist toll, Guy als Kompagnon zu haben. Nicht nur als Musiker, sondern auch als jemand, der das Studio bedienen kann. Er und ich, wir arbeiten perfekt zusammen. Manchmal gehen wir ins Studio Two im British Grove, ein Ort, der sich toll anhört. Der Kontrollraum ist nicht grundlegend anders als jener vom Studio One. Auch wenn das Studio Two ein recht kleiner Aufnahmeraum ist, haben wir dort viel aufgenommen. Es ist ein toller Ort, wo man mit seinen Songs hin verschwinden kann und so manchen Track haben wir dort überhaupt geschrieben.
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„Diese Sessions sind immer der Höhepunkt!“
Wie geht ihr bei Aufnahmesessions als Band vor?
Meist spiele ich die Songs den anderen in einer Bandsession vor. Und zwar von Anfang bis Ende. Glenn [Worf, Bassist, Anm. d. A.] transkribiert das dann, oft schon während ich den Song vorspiele, und gibt den Musikern die Noten-Charts. Sogar, wenn er ihn noch nie gehört hat. Dann steht ein Mann in jeder Ecke und das ist ein tolles Gefühl. Ich predige der Band nichts, meistens wird wenig darüber gesprochen. Vielleicht fragt mal jemand, ob er irgendeinen Teil vom Song noch einmal hören kann, nur damit seine Notenblätter auch passen. Es geht meist gleich zur Sache, wir begeben uns in Position und fangen an, zu spielen. Gelegentlich kam es in der Vergangenheit auch mal vor, dass ich mit Guy einen Song angefangen habe und wir ihn ausgearbeitet und aufgeschrieben haben. Aber diese Sessions sind immer der Höhepunkt! Es war großartig, Greg Leisz [Pedalsteel- und Lapsteelspieler, Anm. d. A.] zum ersten Mal im Studio dabei zu haben. Es war so, als wäre er schon viele Jahre bei uns. Ein nahtloser Übergang, als hätte er schon immer dazugehört. Und das tut er jetzt. Die Aufnahmen waren einfach ein wunderschönes Erlebnis. Ich hatte einfach viele Songs – das kann damit zu tun haben, dass die letzte Platte lang her ist, oder mit der Zeit während der Covid-Pandemie, aber wir haben jedenfalls viel aufgenommen. Soviel, dass ich bald schon eine EP mit vier weiteren Songs veröffentlichen werde, die thematisch lose miteinander verbunden sind. Es tat gut, sie alle zu veröffentlichen, sie von meinen Schultern zu nehmen und sie auf eine Bandmaschine zu bringen.
Wie fertig sind die Stücke, wenn du sie der Band präsentierst?
Die Songs sind komplett. Die Strophen, die Bridge, was auch immer die Form ist: Ich habe zuhause bereits alles fertig geschrieben. Ich schreibe im Studio selbst nichts. Aber natürlich passieren dann auch im Studio Dinge, man hört etwas, ändert etwas. Man nimmt Anpassungen vor, schnappt sich einen Stift, ändert den Song. Bei den Texten ist das meinen Musikern egal, die Texte brauchen meine Bandkollegen ja nicht, sie arbeiten ja nicht mit dem Text, wie ich das tue. Ein Songwriter zu sein ist etwas anderes als ein Musiker zu sein. Meine Musiker sind tolle Musiker. Und ich bin im Regelfall kein so guter Musiker. Ich habe mich einmal bei der Band entschuldigt: „Sorry Jungs, ich habe da ein paar Fehler gemacht.“ Und einer meiner Kollegen meinte: „Nun, du sagst ja, der Sänger hat immer recht.“
Du bist ja auch bekannt für deine großartigen Licks und Fills. Wie weit sind die ausgearbeitet, wenn du ins Studio kommst?
Das sind einfach die Farben, die man hinzufügt. Vielleicht habe ich mich vorher schon für eine Akustikgitarre entschieden, die reinpasst, wenn es ein akustischer Song ist — oder mir schwebt eine gewisse E-Gitarre im Kopf rum und ein Zugang, wie ich es mit einer elektrischen E-Gitarre angehen möchte. Vielleicht hat aber auch Richard [Bennett, Gitarrist, Anm. d. A.] eine Idee — und dann bekommt er auch freie Hand. Überhaupt: Die Band ist so gut, ich möchte sie nicht mit Vorgaben zurückhalten. Das wäre so, wie großen Schauspielern zu sagen, wie sie spielen sollen. Ich präsentiere ihnen das Knochengerüst und sie bringen das Fleisch auf diese Knochen. Dann wird es vor meinen Augen zu etwas Schönem, etwas, von dem ich ganz begeistert bin. Sobald wir eine Richtung gefunden haben, lasse ich die Dinge einfach laufen. Manchmal mache ich kleine Anpassungen. Wir hören uns gegenseitig ganz genau zu. Gelegentlich sehe ich während der Session, dass sich zwei Bandmitglieder umarmen – und danach erfahre ich, dass einer von ihnen seinen Part ein wenig geändert hat und der andere sofort darauf reagiert und dazu gespielt hat. Jeder von uns hat einen ähnlichen Kopfhörermix, damit wir auch wirklich den gleichen Song spielen.
Die erste Single des Albums, Ahead Of The Game, handelt von Musiker*innen, die sich mit Cover-Shows über Wasser halten.
Das ist mittlerweile wirklich Teil der Szene. Mir ist das in Nashville aufgefallen, wo der Tourismus ja wirklich extrem aufgeblüht ist. Nicht, dass das nicht immer schon so gewesen wäre, aber ich denke, es ist jetzt noch viel stärker präsent. Cover-Gigs sind für viele Musiker*innen einfach lukrative Gigs. Ich habe Freunde in London, die Pub-Auftritte spielen, wo sie die großen Hits anderer performen. Die können sich vor Aufträgen kaum retten. Du spielst da nicht deine eigenen Songs. Das ist ein Riesending, in England so groß wie Pferderennen. Es sorgt dafür, dass viele Musiker*innen Jobs haben. Ich bin diesbezüglich keineswegs snobbish. Manche von ihnen sind wirklich tolle Bands. Und was ist schlecht daran, Creedence-Clearwater-Songs zu spielen? Überhaupt nichts – und die Leute lieben es. Nur wenn jemand darauf besteht, dann auch seine eigenen Stücke zu spielen, dann wird das Publikum plötzlich kleiner.
Viele von diesen Bands spielen auch deine Stücke.
Ja, Money For Nothing, Walk Of Life, die Hits eben.
Du bist ja auch einer der großen Geschichtenerzähler der Rockmusik. Ich denke da an Songs wie Telegraph Road oder What It Is, Stücke, die dich sofort ins Geschehen reinreißen, die eine literarische Qualität haben. Wer hat dich als Textschreiber beeinflusst?
Der Größte für mich ist da ganz klar Bob Dylan. Ich bin mit seiner Musik aufgewachsen. Meine Schwester hat mir sein erstes Album gegeben – damals, als er noch Folk-Musik spielte. Ich konnte mir seit meiner frühen Kindheit Texte gut merken, konnte etwa mit 18 Monaten schon den Text von Rudolph, The Red-Nosed Reindeer singen. Auch Comedy-Songs waren wichtig für mich als Kind, Texte, über die ich lachen konnte. Viele von ihnen kann ich auch heute noch auswendig. Irgendwann kamen dann Chuck Berry und Rock’n’Roll-Songs ins Spiel und das war ein natürlicher Übergang für mich. Ich war bereit. Ich konnte schließlich Big Rock Candy Mountain singen, bevor ich laufen konnte. Klar wusste ich nicht, was ein „Hobo“ war. Ich wusste nicht, was die Songs bedeuten. Aber ich mochte es einfach.
„Ich bin ein Glückspilz“
Durch dein gesamtes Werk zieht sich ja auch ein Folk-Einfluss – ein irischer wie auch ein schottischer.
Ja, absolut – schließlich sind die Hälfte meiner Vorfahren schottisch. Mütterlicherseits gibt es da die Geordies aus dem Nordosten Englands, aber sie sind schottischer Abstammung. Diese schottische Einfluss, den man zum Beispiel in Stücken wie Going Home (Local Hero) hört, der kam bei mir immer ganz natürlich. Wenn Leute von dort mir sagen: „Oh, die Phrase da, die ist sehr West Highlands – und dieser Strathspey [schottischer Tanz, Anm. d. A]“, dann weiß ich nie ganz, wovon sie reden. Aber es ist einfach in mir drin, weil ich früh schottische Tanzmusik hörte. Ich hörte Jimmy Shand und seine Band, als ich vier war. Das hat mich genauso beeinflusst, wie mein Onkel Kingsley, der mir Boogie-Woogie-Klavier vorspielte. Also fühlt es sich für mich genauso natürlich an, wenn ich heute Boogie Woogie höre, Genies wie Lester Young.
Boogie Woogie ist ja auch durchaus ein Einfluss, den man in deinem Schaffen gelegentlich raushört.
Weißt du, die Boogie-Woogie-Bands, das waren doch frühe Rock-Bands. Das ist alles miteinander verbunden und für mich waren Boogie und Blues weitere Bausteine, die sich ganz natürlich miteinander verbunden haben. Ich hatte damals keine Angst davor. Heute schon, ich meine, jetzt mal ehrlich: Viele der Leute, die Boogie spielen, sind echt von einem anderen Planeten. Ich habe es längst aufgegeben, ein guter Musiker sein zu wollen. Was ich heute erreichen will, ist, einen guten Song zu schreiben. Nichts anderes versuche ich. Ich hoffe einfach, dass mir ein guter Song gelingt, und vielleicht schaffe ich es auch, ihn entsprechend aufzunehmen. Das ist dann nochmal eine andere Herausforderung. Es ist eine tolle Art und Weise, seine Zeit zu verbringen. Ich bin ein Glückspilz.
Meine letzte Frage bezieht sich auf deinen Gitarrenton. Der ist unverkennbar und originell. Wie hast du deine eigene Stimme auf dem Instrument gefunden?
Du beginnst damit, andere zu kopieren. Du imitierst so viel, dass du etwas Originelles tust, bevor du weißt, was du tust. Du machst etwas, das dein Eigenes ist. BB King, der mich sehr beeinflusst hat, liebte das Spiel von Elmore James. Daher kommt auch sein Vibrato, dieses kraftvolle Vibrato von BB King. Irgendwann las ich dann, dass Elmore James viel Lonnie Johnson hörte. Ein Teil des Spaßes an der Musik besteht darin, herauszufinden, wer die Leute beeinflusst hat, die man mag. Wer hätte gedacht, dass ein Bottleneck-Spieler wie Elmore James ausgerechnet BB King beeinflussen würde? Wenn du etwas imitierst, dann möchtest du etwas erreichen und du machst es aus guten, nachvollziehbaren Beweggründen. Imitation ist auch eine absolut ehrliche Wertschätzung. Und irgendwann spielst du so viel, dass sich dann dein etwas herauskristallisiert, das dein eigener Stil ist.
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