Featured Image

Marvin Gaye: Das verlorene Album „You’re The Man“ erscheint mit 47 Jahren Verspätung

Gewiss handelt es sich bei You’re The Man, dem nun erscheinenden „verschollenen“ Album von Marvin Gaye, um einen Longplayer, der erst im Nachhinein aus vielen verschiedenen Session-Mitschnitten zu einer Einheit zusammengefügt wurde: Das Album vereint sämtliche Soloaufnahmen, die Gaye im Jahr 1972 gemacht hat (und die nicht für einen Soundtrack bestimmt waren) – ein Großteil davon bislang noch nicht oder erst Jahre später auf Compilations veröffentlicht. Nur ergibt diese Zusammenstellung ein dermaßen schlüssiges Ganzes, dass man You’re The Man als weiteren Karrieremeilenstein der Soul-Ikone bezeichnen muss. Gaye (1939-1984) hätte im Frühjahr 2019 seinen 80. Geburtstag gefeiert.

von Paul Sexton

Zurück ins Jahr 1972: Die Songs von You’re The Man entstanden in einer Phase, in der Marvin Gaye und auch sein Label Motown drastische Veränderungen durchmachten. Der damals erst 33-jährige Musiker stellte sich nach der Veröffentlichung von What’s Going On, seinem Hit-Album, genau diese Frage, und Berry Gordy, Jr. zog mit dem kompletten Label von Detroit an die Westküste, nach Los Angeles. Gaye war dabei überaus produktiv, arbeitete mit angestammten Songwritern wie Hal Davis oder den Jackson-5-Hitmakern Perren/Mizell zusammen und saß während der Sessions auch oftmals selbst als Producer hinter den Reglern. Hört man nun You’re The Man mit knapp 50 Jahren Verspätung zum ersten Mal, fungieren diese Aufnahmen als Fenster in die Vergangenheit: Sichtbar wird ein einzigartig begnadeter Musiker, der gerade am Gipfel angelangt war – und eine gequälte Seele, die immer wieder an sich selbst und der Welt zu verzweifeln drohte.


Hört hier in You’re The Man rein:

Klickt auf "Listen" für das volle Programm.


Eines der prägnantesten Werke seiner Karriere

Der politische Titelsong You’re The Man beginnt mit einer Wah-Wah-Gitarre, gepaart mit klassischen Grooves, wie man sie von ihm kennt – selbst ein Hauch von Inner City Blues liegt in der Luft. Seiner eher düsteren, pessimistischen Sicht auf die Dinge, die auf diesem Album immer wieder anklingt, gibt er mit The World Is Rated X einen treffenden Titel (der Song sollte schließlich im Jahr 1986 als Single erscheinen). Eine der prägnantesten Performances seiner ganzen Karriere liefert er mit Piece Of Clay ab: Erst 1995 veröffentlicht, als dieser Song auf der The Master-Anthologie erstmals erschien, läuft Gaye hier zusammen mit seinen Motown-Songwriter-Kolleginnen Gloria Jones und Pam Sawyer zu absoluter Höchstform auf. Besonders schmerzlich ist dabei eine Zeile wie „father, stop criticising your son“, die auf das wuchtige Rockgitarren-Intro folgt – schließlich war es 12 Jahre später sein Vater, der Marvin Gaye am 1. April 1984, einen Tag vor seinem 45. Geburtstag, im Streit erschießen sollte. Auch die Vorfreude, endlich wieder „dear old Dad“ zu sehen, die im Verlauf von I’m Going Home zum Ausdruck kommt, hat aus heutiger Perspektive denselben hässlich-ahnungsvollen Beigeschmack.

Auf einem Großteil der Songs von You’re The Man stellt Gaye eindrucksvoll unter Beweis, wie leicht es ihm fällt, echte Kritik, Kampfansagen und Klartext in samtene Klangwelten einzubetten – inklusive jenen Harmonien, die schon während der Doo-Wop-Ära zu seinem Repertoire gehörten: Where Are We Going wäre ein Beispiel dafür, wohingegen I’m Gonna Give You Respect und Try It, You’ll Like It eher mit den gutgelaunten, mit Bläsern gespickten R&B-Hits jener Tage verwandt ist.

Mit You Are That Special One und We Can Make It Baby, die Titel verraten es schon, geht es ihm denn auch keineswegs um Gesellschaftskritik: Hier ist Gaye plötzlich wieder der verliebte Feelgood-Musiker, als der er sich in den ausklingenden Sechzigern so häufig präsentiert hatte. Auf My Last Chance, der Vorabsingle des neuen Albums, neu abgemischt von Salaam Remi (u.a. Amy Winehouse), klingt Gaye schließlich so romantisch wie nie zuvor in seiner Karriere.

Motown/EMI Hayes Archive

Soul-Schnappschüsse aus dem Jahr 1972

Auch den beiden Stücken Symphony, von dem eine frühe Version auf dem 1985 veröffentlichten Album Dream Of A Lifetime erschienen war, und I’d Give My Life For You verleiht Mr. Remi neuen Glanz; vor diesem neuen Remix war letzterer Song nur auf der Deluxe-Edition von Let’s Get It On zu hören gewesen. Mit Woman Of The World, das Gaye dann wieder durch und durch zuversichtlich klingen lässt, hat er genau genommen schon damals den perfekten Soundtrack zur #MeToo-Bewegung aufgenommen.

Schließlich sind auf You’re The Man auch beide Seiten der ursprünglich für Dezember 1972 geplanten Weihnachtssingle vertreten, die er dann jedoch zurückziehen sollte: I Want To Come Home For Xmas, die längere Version jenes Songs, der aus der Perspektive eines Kriegsgefangenen in Vietnam geschrieben ist, gefolgt von der Instrumental-B-Seite Xmas In The City, die bislang unveröffentlicht war. Die zusätzliche Alternativ-Version des Titelsongs You’re The Man, hier nun als Funk-Track, markiert einen grandiosen Kontrapunkt zum Original; seine Analysen und Ansichten über die USA in den frühen Siebzigern klingen dabei extrem leidenschaftlich, wenn Gaye sich fragt, ob eine Frau an der Spitze womöglich die bessere Alternative wäre: „Maybe what this country needs is a lady president.“

Den Schlusspunkt des verschollenen Albums markiert, fast schon wie bei einem Konzert, eine Aufzählung der beteiligten Top-Player, jener Musiker also, die dem Song Checking Out seinen lässigen Funk-Groove verpassen. Während sich alles in eine kontinuierliche Dance-Party auflöst – der Tanz des Abends ist der „Double Clutch“ –, tritt schließlich sein Bandleader Hamilton Bohannon ans Mikrofon und verabschiedet sich von den Zuhörer*innen. Man sieht förmlich, wie Gaye schon davor die Bühne verlässt, während die Band die Sache ohne den Meister zu Ende bringt.

1972 war ein schwieriges, ein aufreibendes Jahr im viel zu kurzen Leben von Marvin Gaye, der mit vielem, was in der Welt passierte, nicht einverstanden sein konnte. Er musste den Mund aufmachen, Stellung beziehen, seine Gefühle in Songs verpacken. You’re The Man, die nun erscheinende Zusammenstellung von Schnappschüssen aus jenen Tagen, gewährt erstmals Einblicke in diese Phase – und reiht sich perfekt ein in die Diskografie der Soul-Ikone, die dieser Tage 80 Jahre alt geworden wäre.

You’re The Man ist ab sofort erhältlich.


Titelfoto: Motown/EMI Hayes Archives

Das könnte euch auch gefallen:

Zeitsprung: Am 1.4.1982 wird Marvin Gaye erschossen – von seinem Vater. Gesprengte Rassenschranken: Wie Motown in den letzten 60 Jahren viel bewegte Smokey Robinson: Der Miracle-Man aus der Hitfabrik Motown