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Mental Health, Abgründe und Altlasten: 5 Dinge, die wir aus der schockierenden Haftbefehl-Doku „Babo“ gelernt haben

Er ist einer der größten Rapper, die Deutschland je hervorgebracht hat – geht es nach zahlreichen Stimmen, prominenten wie nicht-prominenten, sogar der Allergrößte. Aykut Anhan alias Haftbefehl erschuf gewissermaßen eine ganz eigene Sprache: eine Straßenmischung aus Deutsch, Arabisch und Versatzstücken aus anderen Sprachen, mit einem unverwechselbaren Klang, einer eigenen Sprachmelodie – hart wie eine Gewehrsalve, virtuos und genreprägend. Mit Babo – Die Haftbefehl Story erschien jetzt eine Netflix-Doku über den Künstler – und die ist alles andere als ein Heldengesang oder aufpolierte Imagepflege. Sie lässt einen schockiert und traurig zurück. Denn auch wenn in der Doku deutlich wird, warum Haftbefehl zu Recht dort steht, wo er künstlerisch steht, zeichnet sie zugleich das Bild eines schwer kokainabhängigen Mannes, der mit sich und seiner Vergangenheit kämpft.

Zwischen Familie und Überdosis, zwischen einer hochproblematischen Kindheit und kommerziellen Triumphen, zwischen Chabos wissen, wer der Babo ist und dem eigenen Abgrund: Dass Haftbefehl künstlerisch ein absolutes Ausnahmetalent ist, wussten wir. Dass wir Chabos schon wissen, wer der unbestrittene Babo ist: logisch, auch. Deshalb widmen wir uns hier einigen anderen Dingen, die wir aus der Doku mitgenommen haben.

1. Haftbefehl beschönigt nichts. Und das ist schockierend, aber durchaus wertvoll.

Irgendwann gegen Ende der Dokumentation merkt einer der Regisseure im Gespräch mit Haftbefehl an, dass dieser ihm an keiner einzigen Stelle gesagt habe, er dürfe das nicht zeigen. Für Haftbefehl eine Selbstverständlichkeit. „Soll ich lügen, oder was?“, sagt Haftbefehl. Das hier sei kein Hip-Hop-Video, wo er den ganzen Tag mit fünf nackten Frauen rumhängt, sondern eben die Realität, sagt er.

Denn wir sehen Haftbefehl nicht nur bei seinen persönlichen Triumphen, von denen es künstlerisch natürlich viele gibt, sondern auch bei massiven Abstürzen: eine Überdosis, die ihn fast das Leben gekostet hätte, eine jahrzehntelange Drogensucht, die ihn klinisch tot machte, wir sehen verzweifelte und aggressive Momente. Gezeigt werden seine Depressionen, seine Sucht, das zerrüttete Verhältnis zu seinem Vater, die gravierenden psychischen Probleme und die schwierige Situation, in die er seine Familie durch sein Verhalten bringt.

Foto: Netflix

Das Beeindruckende an Haftbefehls Doku ist, dass hier nichts beschönigt und nichts theoretisiert wird – und genau das ist bei Themen wie Drogenkonsum so unglaublich wichtig. Kein Mensch mit einigermaßen kohärenter Auffassungsgabe hätte nach dem Ansehen dieses Films auch nur den Hauch eines Gedankens, dass ein dermaßen ausschweifender Drogenkonsum etwas auch nur ansatzweise Schönes sein könnte. Wenn man Haftbefehl dabei zusieht, wie er von Binges mit zehn Gramm Kokain erzählt, wie er zittert, schwitzt, aufgedunsen ist, depressiv und offenbar am Ende – dann ist das auch ein warnendes Beispiel und kein Heldengesang.

2. Es gibt einen großen Unterschied zwischen Aykut Anhan und Haftbefehl.

Es gibt einen großen Unterschied zwischen Aykut Anhan, dem Familienmann, Bruder und Freund, und Haftbefehl, dem Rap-Superstar. Ja, es klingt wie ein Klischee, aber in der Doku wird das auf drastische Weise deutlich. Seine Ehefrau Nina Anhan sagt dort: „Ich liebe Aykut, aber Haftbefehl liebe ich nicht.“

Das hat viele Gründe. Während Aykut Anhan als Mensch der altruistische Bezugspunkt seiner Familie ist – jemand, der sich um alle kümmert, um Freunde und Angehörige – ist Haftbefehl der völlig außer Rand und Band geratene Rockstar. 

Foto: Netflix

Zahlreiche Anekdoten zeigen, dass Haftbefehl ein oft ziemlich wahsinniges Rockstar-Ethos lebt. Er ist näher bei Pete Doherty in dessen ärgsten Zeiten als woanders. Das kann streckenweise sogar amüsant sein, etwa wenn er Stunden zu spät mit dem Ferrari und in Badeschlappen aus dem Hotel zur Vertragsunterzeichnung kommt – und den Vertrag dann mit dem Mund unterschreibt.

Doch bei allem Humor wird auch deutlich, wie schwierig diese Haltung für sein Umfeld ist. Geschäftspartner lassen keinen Zweifel daran, dass es kaum planbar ist, mit jemandem zusammenzuarbeiten, der Termine versäumt, Tage zu spät erscheint oder einfach nicht auftaucht. Viele nehmen es dennoch in Kauf – aus Liebe, Loyalität oder schlicht, weil sie von Haftbefehls Erfolg profitieren.

Tragisch wird es, wenn Aykut Anhan im privaten Umfeld zu sehr in die Rolle des Haftbefehl rutscht. Seine Frau erzählt, dass er zu gemeinsamen Urlauben oft einfach nicht erscheint und sich stattdessen in exzessiven Phasen verliert. Aykut Anhan wirkt hin- und hergerissen zwischen diesen beiden Polen – zwischen Verantwortung und Eskalation – und sagt selbst, dass er für ein Familienleben vielleicht gar nicht gemacht sei.

3. In der Doku geht es um Mental Health, um Herkunft und Verankerung – weniger um Rap-Erfolge.

Die Doku Babo lässt einen im emotionalen Tumult zurück. Sie ist schockierend und traurig zugleich, man hat stellenweise das Gefühl, dass Haftbefehl möglicherweise nicht mehr lange leben könnte. Haftbefehl ist in der Doku weder Held noch Antiheld. Bei aller musikalischen Bewunderung wünscht man ihm natürlich, dass er sein Leben in den Griff bekommt – aber gleichzeitig macht ihn sein Verhalten auch alles andere als sympathisch. Und genau das ist wichtig.

Der vielleicht zentrale Punkt der Doku ist, dass Babo auch eine klare Ansage in Sachen Mental Health ist. Haftbefehls psychische Probleme sind im Film allgegenwärtig. Sie hängen direkt mit seiner schwierigen Familiensituation und vor allem mit dem fehlenden Bezug zu seinem Vater zusammen. Diese Lücke zieht sich wie ein roter Faden durch sein Leben, prägt sein Selbstbild und seinen Umgang mit der eigenen Familie.

Das soll nicht psychologisierend klingen – aber die Doku zeigt auf eindrucksvolle, beklemmende Weise, wie sehr die eigene Geschichte in einem weiterlebt. Sie macht deutlich, wie wichtig es ist, sich um seine mentale Gesundheit zu kümmern, egal in welcher Situation man ist. Und dass gerade ein harter Kerl, ein „Macher“ wie Haftbefehl, das so offen zeigt, macht diesen Film zu einem mahnenden Beispiel. Denn die eigenen Dämonen, das eigene Päckchen – man nimmt sie immer mit, egal, wohin man geht und egal, was das Leben einem bietet.

4. Haftbefehl tanzt mit dem Tod – und trägt das Erbe einer tragischen Familie.

Haftbefehl hat vor nichts Angst – auch nicht vor dem Tod. Die vielleicht beklemmendste Szene der Doku zeigt, wie sein Bruder erzählt, dass er nach einer beinahe tödlichen Kokain-Überdosis aufwachte und fragte, ob er tot sei. Als der Bruder verneinte, rastete Aykut Anhan völlig aus, schlug um sich, warf medizinische Geräte durch den Raum. Dieses Tanzen mit dem Tod wirkt wie die tragische Fortschreibung einer Familiengeschichte, in der Tod und Verzweiflung immer wiederkehrende Motive sind.

Sein Bruder berichtet, dass sich mehrere enge Verwandte das Leben nahmen – darunter der Vater und die Großmutter. Die Depression scheint, so hart das klingt, in der Familie zu liegen. Und im Zentrum dieser familiären Wunde steht das Verhältnis zum Vater.

Foto: Netflix

Was die Kinder über ihn erzählen, ist tieftraurig. Sie wussten jahrelang nicht, womit ihr Vater überhaupt sein Geld verdiente. Später erfuhren sie, dass er schwer spielsüchtig war, teils eine Million D-Mark unter dem Teppichboden versteckte – nur um sie tags darauf wieder zu verlieren.

Der Vater war emotional abwesend, kaum präsent. Haftbefehl erzählt mit hörbarer Traurigkeit, dass sein Vater nicht ein einziges Mal bei einem seiner Fußballspiele war. Diese Leerstelle, dieser Schmerz, prägt ihn bis heute – und ist ein wesentlicher Teil der seelischen Last, die Babo so schonungslos zeigt.

5. Man kann Haftbefehl nicht helfen.

Wie bei allen Süchtigen gilt – das macht auch die Doku ganz deutlich: Er kann nur sich selbst helfen. Und das wissen auch alle Menschen um ihn herum. Haftbefehl hat eigentlich ein unterstützendes Umfeld – Brüder, Freunde, Wegbegleiter, die alles für ihn tun würden. Menschen, die ihm Rehabs empfehlen, die versuchen, ihm zu helfen, sich selbst zu helfen. Doch es scheint unmöglich.

Am Ende bleibt der Eindruck, dass sich dieser Kreislauf nicht durchbrechen lässt. Es gibt keine Katharsis, kein Happy End. Haftbefehl wirkt am Ende der Doku extrem gezeichnet, körperlich wie seelisch. Seine Nase hat sich sichtbar verändert, sein Blick wirkt leer, erschöpft. Darüber zu spekulieren, bringt wenig.

Während andere Künstler-Dokus oft mit einem versöhnlichen Schlusspunkt enden, bleibt hier nur ein beklemmendes Gefühl: dass Haftbefehl am Rand des Abgrunds steht – und dass es womöglich nicht mehr viel braucht, bis wir einen der größten deutschsprachigen Hip-Hop-Künstler unserer Zeit verlieren.

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