Vor mehr als einem halben Jahrhundert hat Nina Simone mit ihrer Interpretation des Songs Sinnerman einen Meilenstein aufgenommen – dessen Kernaussage leider bis heute nichts an Aktualität eingebüßt hat. Hier erfahrt ihr die ganze Geschichte dahinter.
von J'na Jefferson
Mit bluesgetränkten Balladen, die bewusst spärlich instrumentiert und in klanglichen Pastellfarben gehalten sind, stellt Nina Simones Album Pastel Blues aus dem Jahr 1965 einen krassen Gegenpol zum Vorgänger I Put A Spell On You dar – schließlich hatte sie nur vier Monate zuvor auf vertonte Ausgelassenheit und wuchtigen Big-Band-Sound gesetzt. Im Verlauf des bewusst kurz gehaltenen Albums nimmt Simone gleichwohl kein Blatt vor den Mund, legt den Finger in persönliche und gesamtgesellschaftliche Wunden, indem sie gleichermaßen Herzschmerz (z.B. die Klavierkomposition Ain’t No Use) und das Rassismusproblem in den Vereinigten Staaten (Strange Fruit) thematisiert.
Überhaupt klang Nina Simone selten so beherzt und mutig wie auf Pastel Blues: Sie zerlegt den Blues in seine Einzelteile, nimmt das Grundgerüst und kreiert darauf basierend etwas, das ganz klar ihre Handschrift trägt, nach Nina klingt. Neun Stücke reichen da vollkommen, um zu zeigen, wie sich Freiheitsstreben und Furchtlosigkeit vertonen lassen: Genau genommen ist dieses Album der beste Beweis dafür, dass der Titel „Hohepriesterin des Soul“ nicht nur absolut verdient, sondern in vielerlei Hinsicht treffend gewählt ist.
Während weite Teile ihres Pastel Blues-Albums eher dezent und zurückhaltend arrangiert sind, unterstreicht das große, 10-minütige Sinnerman-Finale Nina Simones Welt- und Weitsicht sowie die immense Bandbreite ihres Sounds: Ihr Hang zu ungewöhnlichen Instrumentierungen ist hier genauso zentral wie ihr Gespür für die richtige Mischung aus Musik und Message.
Die Geschichte des Songs
Sinnerman ist ein traditioneller afro-amerikanischer Spiritual, der vom Exodus, dem zweiten Buch Mose inspiriert ist. Der Song erzählt von einem Mann, der versucht, vor Gott zu fliehen – „the Lamb“ –, um am Tag des Jüngsten Gerichts dann um Vergebung zu bitten, doch vergebens: Kein Mensch kann es schaffen, dem Zorn Gottes zu entkommen. Die früheste Aufnahme des Stücks ist gar nicht viel älter: Erst 1956 verewigte das Les Baxter Orchestra den Sinnerman in seiner modernen Fassung, wobei sich Baxter und sein Kollege Will Holt die Songwriting-Credits teilen. In dieser Urversion, gesungen und gesprochen von Holt und einem Chor, spielen die Akustikgitarre und die Bläser die Hauptrolle.
Zu Beginn ihrer Karriere machte Nina Simone das Stück Sinnerman regelmäßig zum Schlusspunkt ihrer Konzerte im New Yorker Greenwich Village. Keine zufällige Wahl, wie sie später in Peter Rodis’ Dokumentarfilm Nina: A Historical Perspective klarstellen sollte: „Ich will die Leute so sehr aufrütteln, dass sie zerbrochen und richtig fertig sind, wenn sie einen Nightclub nach einem meiner Auftritte verlassen“, so die Sängerin.
Im Verlauf ihrer Sinnerman-Interpretation nimmt Simone, die mit dem Original-Spiritual vermutlich schon als Kind in Kontakt kam – schließlich war ihre Mutter eine „zutiefst religiöse“ Methodistenpredigerin –, den Blues und den Jazz, zwei Genres aus dem Süden der USA, und krempelt damit das ursprünglich im Folk verwurzelte Original vollkommen um. Sie wendet sich lautstark an den Schöpfer, der ihr vergeben soll für ihre Verfehlungen, um dann auf Scat-Gesänge und kollektive Improvisationen mit dem Publikum zu setzen – was an die Rufe, die Field Hollers auf den Plantagen während der Sklaverei erinnert. Der Höhepunkt ist dann nach knapp vier Minuten erreicht: Der musikalische Befreiungsschlag ist dermaßen ekstatisch und treibend, dass selbst die größten Sünder in die Knie gehen dürften. Der Beat prescht voran, eine Rockgitarre bahnt sich den Weg, das Klavier klimpert dazu, und rhythmisches Klatschen überschlägt sich, was dem traditionellen Sinnerman einen modernen Anstrich gibt – und das Stück ganz klar zum Pflichtprogramm in Simones Diskografie macht.
Die Reaktionen auf den Sinnerman
Es sollte zwar Jahrzehnte dauern, bis ihre Version auch in den Charts auftauchte – Platz 25 in der US-Billboard Jazz Digital Songs Jahrescharts 2016 –, doch seine Relevanz und Wirkkraft entfaltete Simones Sinnerman schon lange davor, ganz unabhängig von den Zahlen. Denn wie so viele der zeitlosen Songs von Nina Simone, diente ihre Version immer wieder als Referenzpunkt, oder Teile davon tauchten als Samples auf – etwa in Songs von Talib Kweli, Timbaland oder Hozier. Eine Coverversion von Alice Smith läuft im Abspann der Netflix-Horrorserie Lovecraft Country, die in den USA der Fünfziger spielt, wo ein Afroamerikaner durch die von Jim-Crow-Gesetzen geprägten Staaten fährt und seinen verschwundenen Vater sucht.
Wie die meisten ihrer Songs, erschien auch Sinnerman in einer Zeit, in der die Nation zutiefst zerrissen und aufgewühlt war: Was die Unruhen von 1965 mit den Black-Lives-Matter-Protesten unserer Zeit gemeinsam haben, liegt auf der Hand – eine schmerzlich lange Zeit, in der viel zu wenig passiert ist. Musik dient immer auch als Spiegel des Zeitgeschehens, und gerade Sinnerman zwingt einen als Zuhörer*in, sich genau umzuschauen in der Welt und in sich reinzuhorchen. Im Idealfall sieht Buße so aus, dass man sich ändert, Fehler erkennt und etwas dagegen unternimmt – und gerade Nina Simones Sinnerman erinnert uns daran, dass ein Umdenken und wirklicher Wandel nicht nur wichtig, sondern unvermeidlich sind, wenn man soziale, moralische und politische Wunden heilen will, die mit den Jahren nur noch tiefer geworden sind.
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