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Teenage Angst, weite Hosen und Dudelsäcke: Ein kurzer, aber heftiger Orkan namens Nu Metal

Mitte der Neunziger erhebt sich eine neue Macht. Eine Macht, die tief gestimmte Metal-Gitarren mit Samples und aggressiven Gesang mit Rap vermählt: Nu Metal erobert aus Kalifornien rasant die Welt. Und zerfleischt sich dann sehr bald selbst.

von Björn Springorum

Der Godfather des Nu Metal ist eine eher unscheinbare Figur. Ross Robinson, als Teenager selbst in Thrash-Metal-Bands aktiv, ist federführend bei der Erfindung eines revolutionären neuen Metal-Sounds. Im Mai und Juni 1994 nimmt er mit ein paar jungen Kaliforniern namens Korn ein Album auf, das die Welt am 11. Oktober 1994 erschüttert. Es vereint den Groove des Thrash mit der Wucht des Hardcore, der Attitüde des Hip-Hop, einem kriminell schlabbernden Bass, der ausladenden Melodik des Alternative Metal und einer gehörigen Portion Verzweiflung. Und klingt trotzdem neu, bedrohlich, fies. Nur die Dudelsäcke versteht keiner.

Den Look der Szene prägte Korn erheblich mit.
Foto: Bob Berg/Getty Images

Nicht ohne meinen Hip-Hop

Korn erfinden den Nu Metal natürlich nicht im Alleingang. Mit Robinsons trockener, dichter und metallischer Produktion kulminiert auf Korn aber all das, was sich in den Jahren davor andeutete. Nu Metal, das ist Mitte der Neunziger die logische Schlussfolgerung nach den anhaltenden Crossover-Bemühungen vieler Vorreiter. Fear Factory, Faith No More Pantera, Biohazard oder Anthrax experimentieren sehr viel mit verschiedenen Stilen. Und, damals eigentlich undenkbar und in Metal-Kreisen verpönt: Mit Hip-Hop.

Schon auf Korn wird deswegen klar: Ohne Hip-Hop kein Nu Metal. Das sorgt bei den kleinkarierten, ewiggestrigen Szene-Hardlinern natürlich vom Fleck weg für Unmut und Ablehnung. Im überwiegend weißen Rest der Musikwelt für einen Flächenbrand: P.O.D. legen sogar noch vor Korn ihre erste Platte vor, 1995 detonieren Deftones mit ihrem berstend intensiven Referenzwerk Adrenaline in der Szene. Die war zu diesem Zeitpunkt immer noch relativ klein und überschaubar. Eher ein Tummelbecken für Leute mit seltsamen Frisuren, dunkel geschminkten Augen und jeder Menge Probleme. Teenager, gezeichnet von Angst, Depressionen und Unsicherheiten, fühlen sich plötzlich verstanden, der Rest der Welt verdreht die Augen.

Ozzy ist zur Stelle

Ausgerechnet Ozzy Osbourne ändert das. Seine Ozzfest-Ausgaben zum Ende des letzten Jahrtausends geben den jungen Wilden dieser schönen neuen Metal-Welt eine riesige Bühne, die vielen von ihnen clever als Sprungbrett nutzen. Limp Bizkit treten von hier ihren Rap-Metal-Siegeszug an, hauen nach ihrem Debüt Three Dollar Bill, Y'all im Jahr 1999 dann mit Significant Other ihre erste Nummer eins in den US-Charts raus. Coal Chamber und Papa Roach, auch diese Bands gehen Ende der Neunziger schon an die Startlinie. Es wird jedoch bis ins neue Jahrtausend dauern, bis aus ihnen Titanen werden.

Hört hier in Significant Other rein:

Der riesige Erfolg von Korn, die 1998 und 1999 neue Alben rausbringen und mit beiden ebenfalls die Pole Position in den USA erreichen, ändert die Außenwirkung von Nu Metal endgültig. Das sind nicht nur ein paar wütende, verwirrte Emo-Typen, die sich nicht entscheiden können, ob sie rappen oder rocken wollen. Das ist der Zeitgeist, das ganz große neue Ding, mit dem sich ordentlich Kohle scheffeln lässt. Und da stehen sie plötzlich Schlange, die Major-Labels, und nehmen alles unter Vertrag, was auch nur im Entferntesten nach Nu Metal riecht. Mehr noch: Selbst gestandene Metal-Bastionen wie Slayer oder Machine Head werden plötzlich dabei beobachtet, wie sie sich bei Nu Metal bedienen. Um nicht abgehängt zu werden.

Infest: Ein Meilenstein feiert Geburtstag

Die in den frühen 2000ern folgende Welle reizt das Nu-Metal-Genre weiter aus. Slipknot bringen ungeahnte Wucht, Härte und Hass, Staind lotet eher die melodische Seite des Spektrums aus. Längst ist Nu Metal Mode und Lifestyle, ein Genre mit Stachelhaaren, Piercings, weiten Klamotten und düsteren, vom Zweifeln zerfressenen Texten. Und dann sind da natürlich noch die Emo-Könige Linkin Park, die Ende 2000 Hybrid Theory veröffentlichen. Es ist das bestverkaufte Debüt des 21. Jahrhunderts und ein erstaunliches Manifest der Angst.

Auch Linkin Park waren Wegbereiter des Nu-Metal. 
Foto: Christina Radish/Redferns/Getty Images

Den Puls der Zeit, die Lebenswirklichkeit junger Menschen treffen auch Papa Roach besser als die meisten anderen. Die hauen schon 1997 ein Album in Eigenverantwortung raus und müssen doch noch bis zum 25. April 2000 warten, bis ihre Stunde schlägt. Infest verankert die Kalifornier über Nacht im Thronsaal des Genres und bläst auch noch zu seinem 20. Geburtstag mit dieser hochexplosiven Mischung aus massiv produziertem Metal und Rap jede Rübe weg. Mit Last Resort geben Papa Roach dem Genre außerdem eine seiner ganz großen Hymnen, touren in der Folge mit Limp Bizkit oder Eminem. Papa Roach sind bis heute eine feste Größe, die riesige Hallen füllt, wenn ihnen gerade kein Virus in die Quere kommt.

Unverdiente Häme

Dieses Glück haben nicht alle Bands der langsam immer unüberschaubarer werdenden Szene. Alien Ant Farm, Crazy Town oder Drowning Pool springen auf den Zug auf, genießen ihre kurze Zeit in der Sonne und verschwinden dann schnell wieder. Da ist der Zenit des Genres aber eh längst überschritten. Als hätten sie sich angesprochen, enttäuschen die Großen der Zunft viele Fans mit ihren Alben zwischen 2003 und 2005, mehr und mehr setzt eine Übersättigung ein. Es gibt einfach zu viele, zu generische Nu-Metal-Bands, die zunehmend ähnlich klingen. Aus dem frischen Wind, der schnell auf Orkanstärke angeschwollen ist, wird ein Sturm im Wasserglas.

Sicher, die Ikonen bleiben erhalten und setzen immer noch eine Menge Platten ab. Korn, Limp Bizkit, Linkin Park, Papa Roach oder Slipknot wenden sich aber zunehmend anderen Einflüssen zu. „Wir waren ein Moment in der Zeit, und dieser Moment ist vorbei“, fasst Fred Durst von Limp Bizkit später den Untergang des Nu Metal zusammen. An seine Stelle treten Metalcore und Post-Hardcore. Was bleibt, sind viele unvergessliche Erinnerungen und Songs für Leute, die heute zwischen Mitte 30 und Anfang 40 sind. Und eine Menge Häme von der Presse: Der NME nennt Nu Metal einfach mal „das schlimmste Genre aller Zeiten“. Ist natürlich Quatsch. Nu Metal mag vielleicht zu weiß und zu maskulin gewesen sein; er war aber eben auch der Soundtrack einer kranken Generation. Und verdient von der Geschichtsschreibung entschieden mehr als einige abfällige Randnotizen.

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