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Foto: Renell Medrano

„SWAG“: Was wir von Justin Biebers neuem Album gelernt haben

Bitte Zählermarke einfügen

Vielsagendes Cover, spektakuläre Auswahl an Produzenten, ungewöhnlich experimenteller Sound:  Mit seinem Überraschungsalbum SWAG wollte Justin Bieber offensichtlich ein Zeichen setzen. Nabelschau oder persönlicher Seelenstriptease? Wir werfen einen sezierenden Blick auf das Comeback des gebeutelten Stars.

Justin Bieber hat die vergangenen Jahre eher in den Boulevard- und Klatschspalten der Medien verbracht als mit seiner Musik aufzufallen. Eine abgesagte Welttournee hat ihm Berichten zufolge grob 30 Millionen US-Dollar Schulden eingebracht. Aufgekommen ist dafür offenbar sein damaliger Manager Scooter Braun, von dem sich Bieber aber mittlerweile sehr medienwirksam getrennt hat.

Depression, Sucht, Angstzustände

Danach wuchsen zunehmend die Sorgen um Biebers Zustand und seine psychische Gesundheit. Über seine Depression, seine Sucht und seine Angstzustände spricht er seit 2020 offen, wirklich los kommt er nicht davon. Versucht es mal mit einer kruden Form christlichen Glaubens, mal mit Enthaltsamkeit, postet erst kürzlich auf Instagram eine frustrierte Reaktion auf all die Fans, die ihm Besserung wünschen. „Glaubt ihr nicht, wenn ich mich hätte heilen können, hätte ich es schon längst getan? Ich weiß, dass ich kaputt bin. Ich weiß, dass ich Probleme mit meiner Wut habe.“

Im Fahrwasser dieser durchaus selbstgerechten Attitüde erscheint plötzlich sein neues Album SWAG, sein erstes seit Justice (2021). Das Werk kommt kurz nachdem in Island eine Plakatwand mit dem Wort „Swag“ gesichtet wurde, wo Bieber angeblich im April gewesen sein soll, um das neue Album fertigzustellen. Identische Plakatwände wurden seitdem unter anderem in Los Angeles und am Times Square in New York City gesehen.

„Hingabe als Ehemann und Vater“

In einer Pressemitteilung zu dem Projekt heißt es, es sei inspiriert von Biebers „Hingabe als Ehemann und Vater. Diese neue Ära der Musik hat eine tiefere Perspektive und einen reflektierteren Sound hervorgebracht, was zu einigen seiner bisher persönlichsten Songs geführt hat“. Das sind große Worte. Einerseits klingt das nach Läuterung, nach einem Neubeginn seit der Geburt seines Sohnes im August 2024. Andererseits schimmert hier auch die Bitte nach Vergebung durch, ein Versuch, Dinge richtig zu stellen. Auf einer Cover-Version ist er dann auch mit seinem Sohn zu sehen, übersät von Tattoos, schwarzweiße Fotografie, körnige, roughe Optik. Hier will einer kein Idol mehr sein. Kendrick Lamar ging für Mr. Morale And The Big Steppers visuell ganz ähnliche Wege – und das ist kein Zufall: Beide verpflichteten Fotografin Renell Medrano.

SWAG im Circle Store:

Manager Scooter Braun steht weiterhin hinter ihm

So einen Cut kann ihm natürlich niemand verübeln. Auch sein ehemaliger Manager Scooter Braun steht weiterhin hinter seinem einstigen Schützling. „Das ist ohne Zweifel das authentischste Justin-Bieber-Album, das es bisher gibt. Es ist wunderschön, unverfälscht und ganz er selbst. Und das ist wichtig.“ Weiter schrieb Braun, der Bieber 2008 entdeckte und über 15 Jahre lang begleitete: „Ich hatte das Privileg, seine Entwicklung fast zwei Jahrzehnte lang miterleben zu dürfen. Auf jedem Weg gibt es einen Moment, in dem ein Künstler voll und ganz zu sich selbst findet – und genau das ist ihm hier gelungen. Er hat seine ganze Seele in dieses Projekt gesteckt, und das spürt man bei jedem einzelnen Durchlauf.“

Schauen wir uns das mal an: 21 Tracks hat Justin Bieber auf SWAG versammelt, vieles Skizzen unter zwei Minuten, die eher an Skits erinnern und vollgestopft sind mit Sprachsamples. Hier geht Bieber den Weg eines Eminem, der seine jüngeren LPs ja bekanntlich auch gern dafür nutzte, in Sprachsamples klarzustellen, wer ihm jetzt eigentlich Unrecht getan hat und mit wem er noch abrechnen muss. Dabei darf nicht fehlen, dass ihm von Comedian Druski attestiert wird, er habe eine „Schwarze Stimme“ und gehörig Soul in den neuen Songs.

Alles andere als generisch

Stimmt es denn auch? Nun ja. Während die experimentelle Natur des Albums durchaus gelungen ist und den Popstar so vielschichtig und offen wie nie zeigt, während die Produktion organischer, roher ist, voller Hall und durchaus typisch für mk.gee, sind die Songs mal mehr, mal weniger stark. Das ist bei der Anzahl natürlich zu verschmerzen, zudem hat man hier wirklich den Eindruck, dass Bieber weg wollte von der generischen Formel, vom Fokusgruppen-Pop, der tot poliert und seelenlos im immer gleichen Sound aus den Boxen wummert.

Bieber hat mithilfe zahlreicher Akteure endlich ein Projekt geschaffen, das wie ein echtes Leidenschaftsprojekt wirkt. Der Opener ALL I CAN TAKE ist dann auch ein äußerst vielversprechender Start, eine Art R&B-Zeitkapsel aus dem Off, die die späten Achtziger referenziert. Die Vielzahl an Produzenten und Songwritern, die hier zum Einsatz kam, will sich natürlich individuell Gehör verschaffen, was dem Ganzen bisweilen den Flow nimmt, aber auch immer wieder für spannende Hörerlebnisse sorgt. Carter Lang (SZA), Tobias Jesso Jr (Dua Lipa, Adele), Eddie Benjamin, Dylan Wiggins, Daniel Chetrit und weitere wollen Justin Bieber neu erfinden, modellieren ihn aber nie komplett fertig. Er bleibt fragmentiert, selbst skizzenhaft, ein Phönix, der noch in der eigenen Asche stecken bleibt. Aber eine Menge Potential mitbringt.

Heilung in Sicht?

Auf einen Hit zielt hier nichts ab. Dafür gibt es viel Reverb und flirrende Synthesizer in Too Long oder quietschende Akustikgitarre im Lo-Fi-Moment Zuma House. Auf einen Charterfolg scheint er also wirklich nicht aus zu sein. Auf eine Botschaft aber schon. Er klagt in Samples ebenso über anstrengende Fans wie über Paparazzi-Begegnungen, die er sogar wiedergibt, er inszeniert sich als geläuterter und gereifter Vater, tränenreich und emotional.

Als künstlerisches Statement nach einer schwierigen Phase ist SWAG durchaus ein ernstzunehmen. Ob es ihn heilen wird, bleibt abzuwarten. Und hängt an der Reaktion seiner Fans – ob er das jetzt will oder nicht.

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