Knapp zwei Jahre nach seinem Ausstieg bei Genesis veröffentlicht Peter Gabriel sein erstes Album als Solist. Es ist der Beginn eines beeindruckend künstlerischen Alleingangs – und zugleich die Heimat seines berühmtesten Songs. Eine Genese seiner Zeit nach Genesis.
von Björn Springorum
25. November 1974, irgendwo in Cleveland, Ohio. Vor wenigen Tagen erst haben Genesis in Chicago ihre Tour zu The Lamb Lies Down On Browadway begonnen, ein ambitioniertes, kostenintensives Unterfangen, das bis in den Mai 1975 hinein andauern soll. An diesem Tag ändert sich jedoch alles: Peter Gabriel teilt der Band an jenem trüben Novembertag mit, dass er nach Ende der Tour aussteigen wird. Warum er damit gewartet hat, bis die Band über den großen Teich geflogen ist? Vielleicht, um die Tour nicht zu gefährden.
Seine Entscheidung ist die logische Konsequenz der letzten Monate und Jahre, in denen sich die Musikpresse mehr und mehr für Peter Gabriels exaltiertes Auftreten und weniger für die Musik von Genesis zu interessieren beginnt. Plötzlich ist es wichtiger, ob Gabriel nun Fledermausflügel, ein Abendkleid, einen Umgang, einen römischen Helm oder fluoreszierendes Make-Up trägt als die Songauswahl von längst legendären Platten wie Selling England By The Pound.
Die Schnauze voll vom Business
Obwohl Steve Hackett, Mike Rutherford, Tony Banks und Phil Collins immer frustrierter über diesen Umstand sind, trifft sie die Nachricht wie ein Schlag. Dennoch willigen sie in die Geheimhaltungspläne ihres Frontmanns ein und spielen die lange Tournee mit dem Wissen zu Ende, dass sich danach alles ändern wird. Im August 1975 bekommt es dann der Rest der Welt mit. In einem offenen Brief bringt Peter Gabriel seine Desillusionierung gegenüber der Musikindustrie zum Ausdruck, gekoppelt an das Bestreben, mehr Zeit mit seiner jungen Familie zu verbringen.
Was mit Genesis passiert, ist wohlbekannt. Nach über 400 erfolglosen Auditions wechselt Phil Collins gezwungenermaßen ans Mikrofon, in den Achtzigern steigen Genesis zur kolossalen Stadionband auf, durchaus erleichtert über das Ausscheiden von Peter Gabriel mitsamt seiner überlebensgroßen Persönlichkeit. Ganz spannend eigentlich angesichts der Tatsache, dass viele Zeitzeugen Genesis ohne Peter Gabriel ein jähes Ende prophezeien.
Peter Gabriel mal vier
Spoiler: So wirklich auf seine Familie konzentriert sich Gabriel dann allerdings doch nicht. Er nimmt Klavierunterricht, hat aber Ende 1975 schon wieder eine Handvoll Demos komponiert. Die Desillusionierung, sie scheint allerhöchstens temporär gewesen zu sein. Dennoch nimmt er sich Zeit für seine Premiere als Solist. 1976 und 1977 entstehen in Toronto und London unter der Aufsicht von Produzent Bob Ezrin die Songs, die schließlich auf seinem ersten Soloalbum landen werden.
Was am 25. Februar 1977 erscheint, ist also ein Album, das einfach Peter Gabriel heißt, von den Fans aber bald Car genannt wird. Es ist die Blaupause für die folgenden drei Werke, die allesamt schlicht Peter Gabriel heißen und jeweils ein anderes Covermotiv aus der Feder von Hipgnosis verpasst bekommen. „Die Idee dahinter ist, die Alben wie ein Magazin anzugehen, das nur einmal im Jahr erscheint“, so Peter Gabriel 1978. „Derselbe Titel, dieselbe Schriftart am selben Fleck; nur das Foto unterscheidet sich.“
Spirituelle Erfahrung auf einem Hügel
Und die Musik natürlich. Auf seinem Einstand führt Peter Gabriel einerseits die kryptisch-spirituelle, mehrdeutige und zynisch-poetische Poesie der Band weiter, die er verlassen hat; andererseits setzt er verstärkt auf Synthesizer und Piano und schiebt die Klangwelt noch mehr in Richtung progressiver Art Rock als auf The Lamb Lies Down On Broadway.
Das funktioniert in einer Nummer besonders gut: Solsbury Hill, sein größter und sehr wahrscheinlich auch bester Song. Geschrieben nach einer, wie er sagt, „spirituellen Erfahrung“ auf ebenjenem Hügel nach seinem Ausstieg bei Genesis, verzaubert der Song mit seiner folkig-proggigen Art, seiner verwunschenen Melodie und einer regelrecht verträumten Stimmung. Ein Song als würde man an einem milden englischen Frühlingstag unter einem Baum im Grünen liegen.
Telefonbuch statt Schlagzeug
Zu verdanken ist der ungewöhnlich ländliche Sound des Stückes Produzent Bob Ezrin. Der legte Gitarrist Steve Hunter nah, die elektrische gegen eine akustische Gitarre zu tauschen. Und statt herkömmlichen Drums liefern den Rhythmus überwiegend eine Rassel und Drumsticks, die ein Telefonbuch bearbeiten. Warum auch nicht? Gitarre, Bass, Schlagzeug ist 1977 schon ein alter Hut.
Insbesondere wegen seiner Lead-Single Solsbury Hill wird das Album zum Erfolg. Eine massive 70-Gig-Tour mit King-Crimson-Hexer Robert Fripp als festem Teil der Live-Band festigt Gabriels neue Reputation als Solokünstler. Auch der Maestro selbst ist recht zufrieden mit dem Album, kann jedoch den überproduzierten großen Schlussakt Here Comes The Flood sehr bald nicht mehr leiden. Und zieht seine Schlüsse. Als logische Folge ist der Nachfolger noch verkopfter und verlässt sich ganz auf das Gespür von Prog-Versteher Robert Fripp. Ein Hit vom Kaliber Solsbury Hill fehlt zwar. Aber um Hits geht es Peter Gabriel da schon lange nicht mehr. Anders ist nicht zu erklären, dass er seine höchst ambitionierten Alben drei und vier auch auf deutsch veröffentlicht hat. Das sollte man gehört haben.
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