Gene Simmons kennen wir natürlich alle als Schlabberzunge von Kiss. Nun spielt er zum ersten Mal als Solokünstler in Deutschland – ohne Maskerade, mit eigener Band und mit einer halbspontanen Setlist aus Klassikern und Schätzchen. Wir haben uns das Konzert am 20. Juli in der Oberhausener Turbinenhalle angesehen.
von Christof Leim
Hier könnt ihr in die Setlist des Abends reinhören:
Klickt auf “Listen” für das volle Programm.
Gene Simmons verfolgt seit jeher unzählige Projekte außerhalb von Kiss, der legendären Hard Rock-Combo mit Schminke, Feuer und großer Show. So wollte er lange Zeit als Schauspieler Fuß fassen, er engagierte sich als Produzent, Autor, Songwriter, Reality-TV-Objekt, Merch-Mogul und genereller Geldscheffler. Nur als Solokünstler ist der 68-Jährige bis vor kurzem noch nicht aufgetreten – im Gegensatz zu seinem Kiss-Kollegen Paul Stanley, der bereits 1989 und 2006 unter eigenem Namen getourt war. Im vergangenen Jahr jedoch stellte der Bassist und Sänger die Gene Simmons Band zusammen, mit der er nun zum ersten Mal in Deutschland spielt. Dazu hat ihn das Magazin Rocks eingeladen, das in Oberhausen sein zehntes Jubiläum feiert.
Das „Rocks“-Magazin hatte zum Jubiläum geladenEs ist unfassbar heiß in der Turbinenhalle, als die Sause am frühen Abend startet. Viele Fans stehen deshalb lieber im Flur oder sogar draußen, als die russischen Melodic-Rocker Reds’ Cool loslegen. Es folgen die Briten The Brew, bei denen vor allem der Drummer mit durchschlagendem Einsatz glänzt, bevor Thunder schließlich zeigen, dass man als klassische Rockband mit Stil reifen kann. Danny Bowes mag mit den kurzen grauen Haaren ein bisschen aussehen wie ein Erdkundelehrer, aber der Mann singt so großartig, als wäre irgendwann vor zwei Dekaden die Zeit stehen geblieben. Und tolle Songs wie Low Life In High Places sind allgemein verstandene musikalische Tatsachen: Sie funktionieren eben.
Natürlich sind die meisten Gäste wegen Gene Simmons gekommen. Das belegen die überproportional vielen Kiss-Shirts, manche Fans haben sich sogar das ikonische Schwarz-Weiß-Makeup ins Gesicht gemalt, und immer wieder erschallt irgendwo der Schlachtruf „You wanted the best, you got the best“. Für seine Soloshows verzichtet Gene auf sämtliches Brimborium, sein Dämonen-Charakter bleibt ebenso zu Hause wie aufwändige Bühnenaufbauten: Hinten eine kleine Wand aus Gitarren- und Bassverstärkern, ein Schlagzeug in der Mitte und vier Mikros – fertig. Nur die beiden hüfthohen grauen Kästen vorne fallen aus dem Rahmen: Der feuerspuckende „God Of Thunder“ hat sich heute Klimaanlagen mitgebracht, die kalte Luft auf die Bühne blasen.
Ziemlich entspannt und ohne Inszenierung tritt Simmons dann vor das Publikum, in schwarzer Lederhose, schwarzem Sakko und mit der unnachahmlichen Lord Helmchen-Frisur. Rasch setzt er sich seine Sonnenbrille auf, lässt sich einen Bass reichen, und los geht’s mit Deuce, dem bewährten Opener unzähliger Kiss-Shows, den das Ur-Line-up der Band bereits vor 45 Jahren bei der ersten Probe gespielt hatte. Simmons’ Mitmusiker lassen sich dabei nicht lumpen, die drei langhaarigen Gitarristen im bestem Rock’n’Roll-Gypsy-Styling posen wie die Weltmeister. Natürlich knallt das, natürlich steht den Kiss-Fans dabei ein erstes Grinsen ins Gesicht geschrieben, ganz zu schweigen von der Freude darüber, dass hier eine Rocklegende ein verhältnismäßig kleines Hallenkonzert spielt. Nach dem Song begrüßt Gene das Publikum erstmal mit einer paar lockeren Sprüchen auf Deutsch. Er lässt sich bejubeln und filmt das sogar in aller Seelenruhe mit seinem Smartphone, das auch beim Gig in der hinteren Hosentasche steckt. Eilig hat er es nicht, was gleich klar macht, dass heute Abend kein Programm einfach runtergeballert wird.
Beste Unterhaltung: Gene Simmons mit seiner Soloband. Pic: Axel JusseitDas nächste Stück stammt vom Gene Simmons Vault, dem „größten Boxset aller Zeiten“, wie der Chef mit Nachdruck verkündet: Are You Ready erweist sich als generischer, aber amüsanter Rocker zwischen All Right Now und Heaven’s On Fire. Den können die Fans ohne Probleme mitsingen, obwohl die Nummer noch nicht in großem Stil veröffentlicht wurde. Anschließend greift Simmons in die große Kiss-Kiste mit den Hits und den Schätzchen: Zunächst glänzt Shout It Out Loud mit einem dreistimmigem Chor (die Einsätze von Paul Stanley teilen sich dabei die Gitarristen), dann macht Parasite überraschend viel Druck.
Die offizielle Setlist – aber dann kommt es doch anders…Verpflichtend scheint die Setlist heute nicht zu sein, denn Simmons und seine Truppe spielen, was ihnen einfällt. Entweder schlagen die Musiker ihrem Boss ein Stück vor oder der ruft ungewöhnliche Nummern aus. Manchmal reagiert er sogar auf Zurufe aus dem Auditorium. Dann folgt eine kurze Frage an seine Mitstreiter („Do you know this one?“), und los geht’s. Das verleiht dem Abend eine angenehme Lockerheit; es macht Spaß, Seltenes wie She’s So European und härtere Spätwerke wie Unholy zu hören, selbst wenn das Quintett die Songs nicht immer bis zum Ende bringt.
Credit: Oliver NiklasFür Do You Love Me? lädt Gene schließlich zwei Dutzend Damen auf die Bühne ein, die ihn mit hohen Stimmen unterstützen sollen. Auch hier übernehmen die Gitarristen wechselweise die Passagen von Paul Stanley, Gene singt nur im Chorus und amüsiert sich ansonsten über diese Einlage. Eine Fan-Dame fällt dem Bassisten besonders auf, weil sie sein markantes Make-up trägt. Simmons bittet sie ans Mikro, nachdem alle anderen Mädels die Bühne schon wieder verlassen haben. Er fragt sie nach ihrem Namen und muss lachen. Das Mädel heißt tatsächlich: Gina. Sie darf (eher: muss) I Was Made For Lovin’ You singen und schlägt sich ziemlich gut. Gene amüsiert sich weiter königlich.
Bisher standen mit Ausnahme von Are You Ready nur Kiss-Songs auf der Agenda, jetzt erhalten wir eine Geschichtsstunde: „Vor Peter Maffay“, beginnt Simmons einen kleinen Vortrag, „vor Die Toten Hosen, vor Die Ärzte, sogar vor Nena und Dschingis Khan, auch vor den Beatles, Led Zeppelin und Kiss, vor allen diesen Bands gab es schon die Urväter: Little Richard, Chuck Berry und Fats Domino. Sie haben den Rock’n’Roll erschaffen.“ Diesem Vermächtnis zollt die Truppe nun mit einer flotten Version von Little Richards’ Long Tall Sally Tribut. Welchen Einfluss diese „Ursuppe“ auf die Welt von Kiss hatte, zeigt sich im folgenden Let Me Go, Rock’n’Roll sehr deutlich.
Im Set finden sich weitere alte Schlachtrösser: Watchin’ You von 1974 zum Beispiel oder War Machine von 1982, bei dem damals ein junger Songwriter namens Bryan Adams mitgeschrieben hatte. Gene hält immer wieder kleine Schwätzchen mit dem Publikum und verspricht sogar, die „Arschloch-Sonnenbrille“ auszuziehen (seine Worte, nicht unsere). Seine Band fordert er auf, sich selber vorzustellen, den deutschen Fans dürfte vor allem Drummer Brent Fitz aus der Band von Slash bekannt sein.
Wirklich interessant wird es, wenn der Griff in die Kuriositätenkiste geht: Das Instrumental Love Theme From Kiss vom Debüt hört man nicht oft, ebensowenig I vom umstrittenen 1981er-Konzeptalbum Music From (The Elder). Charisma von der Discoplatte Dynasty (1979) klingt live wesentlich rockiger, ebenso Radioactive, der einzige Track von Genes Soloalbum von 1978. Für I Love It Loud darf dann eine Horde Jungs auf die Bühne, um die „Yeah Yeah!“-Chöre mitzugrölen, bevor es wieder spontan wird: Die Band spielt Domino und Almost Human an und muss Ladies Room abbrechen. Simmons stört das nicht: „Ich weiß nicht mehr, wie das geht, und ich habe die Nummer geschrieben!“ Dafür gelingt Goin’ Blind sehr ergreifend. Bei dessen hoher Gesangslinie muss sich Gene ein wenig mehr anstrengen, eine Blöße gibt er sich nicht.
All The Way vom zweiten Album steht zwar regulär auf der Setlist, doch das lässt der Boss heute mit den Worten „Let’s skip that!“ weg. Stattdessen beenden Calling Dr. Love und natürlich Rock And Roll All Nite eine äußerst unterhaltsame Show. Man merkt, dass Gene Simmons es genießt, ohne großes Theater einfach Musik zu machen. Und die Kiss-Songs funktionieren auch so. Vielleicht sollte er Konzerte wie heute einfach öfter geben…
Credit: Oliver Niklas