Vor einem halben Jahrhundert — am 21. Mai 1971 – veröffentlichte Marvin Gaye das Album What’s Going On und schuf damit nicht nur einen Soul-Klassiker, sondern setzte auch ein in diesem Genre bis dahin nie dagewesenes politisches Statement.
von Markus Brandstetter
Seht hier das neue Visual Album What’s Going On:
Auch ein Berry Gordy kann einmal ordentlich daneben liegen. Dass aus What’s Going On — dem Song wie in weiterer Folge auch dem Album — einer der größten Soul-Hits aller Zeiten wurde, war nämlich mitnichten dem Motown-Chef zu verdanken. Gordy war alles andere als begeistert von jenem Stück, das in seiner ursprünglichen Form von Marvin Gaye und seinen Motown-Kollegen Renaldo „Obie“ Benson und Al Cleveland erarbeitet worden war. Mehr noch: Gordy lehnte die Single zunächst ab, weigerte sich, das Stück als solche zu veröffentlichen. Der Grund war einfach: What’s Going On war alles andere als das, was man zu jener Zeit als Soul verkaufte. Zu politisch, fand Gordy — und vor allem: zu wenig kommerzielles Potenzial.
Gordy bekam für seine Verweigerung, den Titelsong als Single zu veröffentlichen, ordentlich Gegenwind von Gaye. Der drohte sogar, nie wieder auch nur einen Song bei Motown zu veröffentlichen, wenn What’s Going On keine Single werden würde. Gordy gab nach — und ist heute froh darüber. Der Song belegte in den USA den Spitzenplatz der Soul-Charts und kletterte in den Pop-Charts auf Platz zwei. Ein Riesenerfolg — dem dann auch bald das gleichnamige Album folgte.
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Soziokulturelles Statement
„Mother, mother / There’s too many of you crying / Brother, brother, brother / There’s far too many of you dying / You know we’ve got to find a way /To bring some lovin’ here today“, singt Marvin Gaye im Titelstück der Platte. Das Album thematisierte den Vietnam-Krieg, von dem Gaye von seiner Familie erfuhr: Sein Bruder Frankie war dort als Soldat stationiert. Aber What’s Going On hat noch eine weitere Dimension in seiner Bedeutung: Es thematisiert auch afroamerikanische Soldaten, die sich im Vietnam-Krieg für ihr Land aufopfern — und dennoch von der weißen Gesellschaft nicht als ebenbürtige Mitbürger akzeptiert werden.
In What’s Going On stecken Verzweiflung, Wut, Trauer, private Probleme. Drogenmissbrauch wird genauso wie Armut und Umweltschutz behandelt — zu einer Zeit, in der das wahrlich selten thematisiert wurde. Es war ein Wagnis, das voll aufging: What’s Going On wurde von Kritiker*innen und Hörer*innen abgefeiert, verkaufte sich blendend und avancierte schnell zum absoluten Genre-Klassiker.
Kompromisslosigkeit und Kompromisse
Für Marvin Gaye war What’s Going On ein Befreiungsschlag. Er produzierte die Platte selbst, hatte somit größtmögliche künstlerische und inhaltliche Freiheit. Nun, zumindest fast: Denn Motown legte schlussendlich auch noch ein Veto beim Mix ein, man einigte sich auf einen Sound-Kompromiss. Erst Jahre später erschien der originale Mix auf einer Reissue. Und auf What’s Going On passiert musikalisch jede Menge. Es gibt Streicher, Bläser, Orchestersounds — und den ersten offiziellen Auftritt von The Funk Brothers. Deren Bassist war der legendäre James Jamerson, der bei der Aufnahme zum Titeltrack so betrunken gewesen sein soll, dass er sich nicht auf dem Stuhl halten konnte und so seine Bassspur auf dem Rücken liegend einspielte.
Das Vermächtnis von What’s Going On
What’s Going On ist ohne Zweifel ein Meisterstück. Gaye bedient sich an Klassik-, Jazz- und Gospel-Elementen. Es ist ein Konzeptalbum der Social Consciousness, lange bevor diese so wirklich salonfähig wurde — gleichermaßen wütend, verzweifelt und psychedelisch, hat aber auch sanfte Seiten. Gayes Meisterwerk gilt nicht nur als eines der wichtigsten Soul-Alben, sondern als eines der wichtigsten Alben überhaupt. Nur selten fehlt es — oder sein Titeltrack im Speziellen — in den Best-Of-Listen von NME, Rolling Stone und anderen internationalen Magazinen. Der NME erkor es 1985 sogar zum wichtigsten Album aller Zeiten.
What’s Going On zeigt einen Künstler mit Vision und Mut zum Risiko, der ein ganzes Genre prägte und nach vorne brachte. Progressive Soul, liest man oft. Man sollte das Album nicht nur wegen seines 50. Geburtstag wieder einmal aufmerksam anhören.
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