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Zeitsprung: Am 7.9.1988 treiben es Metallica mit „…And Justice For All“ auf die Spitze.

Anekdoten, Jubiläen und wilde Geschichten: Was an diesem Tag in der Welt der Musik passiert ist, lest ihr täglich in unserem Zeitsprung. Heute: 7.9.1988.

von Christof Leim

1988 stehen Metallica kurz vor dem Sprung in die Oberliga. Mit Master Of Puppets haben sie sich 1986 ein Denkmal gesetzt, jetzt wollen sie ihren ebenso brachialen wie cleveren Thrash Metal mit …And Justice For All zu neuen Höhen treiben. Ein Rückblick auf ein ambitioniertes, eigenständiges, nur fast perfektes Machtwerk.

Hört hier in …And Justice For All rein:

Als Metallica am 7. September 1988 ihr viertes Album …And Justice For All veröffentlichen, liegen ebenso großartige wie harte Zeiten hinter ihnen. Mit Kill ‘Em All haben die vier blutjungen Wilden 1983 den Thrash Metal losgetreten, sich mit Ride The Lightning im Folgejahr massiv weiterentwickelt und 1986 schließlich das monumentale Master Of Puppets veröffentlicht (die ganze Geschichte dazu steht hier). Die Band durchbricht mit Schwung alle Grenzen des Underground, das Genre explodiert, und die Metal-Welt liegt ihnen zu Füßen. Ob die bierdurstigen Herren sich darüber sorgen, was sie musikalisch folgen lassen können, ist nicht überliefert. Dann stirbt Bassist Cliff Burton am 27. September 1986 bei einem Tourbusunglück, und die Band verliert einen wichtigen Steuermann. Schwieriger Einstand

Mit diesem Verlust haben die noch jungen Musiker sehr zu kämpfen, ernennen jedoch schon wenige Monate später den gleichaltrigen Jason Newsted zu ihrem neuen Bassisten, nachdem sie mehr 50 Kandidaten getestet haben, darunter Joey Vera (Armored Saint), Greg Christian (Testament) und Les Claypool (Primus). Sogar David Ellefson von den damals noch quasi verfeindeten Megadeth steht kurzzeitig auf der Liste.

Newsted kommt von den Thrashern Flotsam & Jetsam, mit denen er als großer Fan mehr als einmal Metallica-Songs gecovert hat. Für seine Audition hat er sich sämtliche Stücke der Setlist draufgeschafft, was für großen Eindruck sorgt und charakteristisch für seine Arbeitseinstellung bei Metallica sein sollte. Sein erster Auftritt findet am 8. November 1986 in Reseda, Kalifornien statt, danach geht es auf Japan-Tour und nach Europa. Musikalisch kann man Newsted nichts vorwerfen, selbst wenn er im Gegensatz zu Burton mit einem Plektrum statt mit den Fingern spielt. Vor allem auf der Bühne glänzt er mit unfassbarem Einsatz. Vermutlich liegt es an der unverarbeiteten Trauer über Cliffs Tod, dass die Band ihn trotzdem fortwährend piesackt. So werfen die anderen seine Klamotten aus dem Hotelfenster, schmieren ihn mit Rasierschaum ein oder bestellen teuersten Room Service auf seine Rechnung. Ständig. Newsted zieht trotz allem durch, stolz macht das die Kollegen später natürlich nicht. Fest steht: Metallica sind mittlerweile die Lars-und-James-Show, noch mehr als früher. Kirk Hammett gilt eher als Diplomat, ist kein Alphamännchen, und der Neue hat ohnehin wenig zu sagen.

Ab in die Garage

Zum Aufwärmen nehmen die vier Metal-Helden erstmal fünf Songs für die The $5.98 E.P.: Garage Days Re-Revisited auf, die sie – nomen est omen – in Lars’ umgebauter Garage einproben (alles dazu hier). Auf diesem ersten Vinyl-Lebenszeichen nach Burtons Tod finden sich Gassenhauer von Diamond Head, Holocaust, Killing Joke, Budgie und den Misfits. Das Ding rockt, und der Bass von „Jason Newkid“ drückt ordentlich. Danach geht es ans Songwriting. Metallica entscheiden sich für die Flucht nach vorne und führen die Entwicklung der vergangenen Jahre fort: Die Songs werden noch komplexer, noch länger, noch anspruchsvoller. Mehr Riffs, mehr Harmonien, mehr Taktwechsel sogar im Vergleich zu Master Of Puppets, und nach jedem zweiten Chorus geht es ab in ein „verdammtes anderes Universum“, wie Lars Ulrich es einmal ausdrückte.

Von Januar bis Mai 1988 finden die Aufnahmen statt, dank eines neu verhandelten und gut dotierten Plattenvertrages diesmal in Kalifornien, nicht mehr im kalten Kopenhagen. Leider steht ihr alter Weggefährte Flemming Rasmussen zunächst nicht als Produzent zur Verfügung, weswegen die Band Mike Clink anheuert, der gerade mit dem Debüt von Guns N’ Roses, Appetite For Destructioneinen Megahit gelandet hat. Doch die Zusammenarbeit funktioniert nicht: Nach drei Wochen und ein paar Drumtracks wird Clink entlassen, Rasmussen fliegt zur Rettung ein.

Die Performance der vier Musiker im Studio kann sich sehen lassen: James Hetfield als „Gott der rechten Hand“ haut uns äußerst tighte und ziemlich vertrackte Rhythmusgitarren um die Ohren, mehrfach geschichtet und hochgezogen wie eine Thrash-Metal-Backsteinmauer. Lars Ulrichs Spiel strotzt nur so vor cleveren Ideen, Fills und ordentlich Doublebass. Der Mann ist definitiv besser als sein Ruf. Auch Kirk Hammett hat die meisten seiner Soli sorgsam auskomponiert und zieht im Höllentempo alle technischen Register: modale Skalen, Geschredder, Tapping, markante Melodien, Whammy-Bar, das ganze Programm. Nur Jason Newsted hört man fast nicht.…

Mischen impossible

Zwischen den Gigs der US-Monsters Of Rock-Tour mit Van Halen und den Scorpions fliegen Ulrich und Hetfield mit müden Ohren ständig nach New York, um mit Steve Thompson und Michael Barbiero (ebenfalls bekannt von Appetite For Destruction) das Album abzumischen. Wo und wie genau das Urteilsvermögen der beiden Metallica-Chefs auf der Strecke geblieben ist, weiß man nicht, aber Lars und James entscheiden sich dafür, den Bass rauszudrehen und den Sound zudem extrem trocken und „scooped“, also ohne Mitten, einzustellen. Damit wirkt die Scheibe durchaus speziell, was man als Vorteil und Nachteil betrachten kann. Rund, lebendig, fett klingt sie allerdings nicht, dafür knüppelhart und düster.

Die Gründe sind vielfältig, eine ausführliche Analyse des Bass-Debakels findet ihr hier. Insbesondere scheint Ulrich auf diesem Sound bestanden zu haben, wie Thompson kürzlich erst zu Protokoll gab: „Am ersten Tag kam Lars an mit einem Stapel Notizen zum EQ-Setup für die Drums. Das haben wir umgesetzt, und es klang beschissen.“ Also rudern die beiden zurück, bauen einen fetten Mix, den Hetfield absegnet. Lars’ beharrt jedoch auf seiner Vision einschließlich fast unhörbarer Bassspuren, Hetfield wirft (laut Thompson) nur resigniert die Arme in die Luft. Hinzu kommt, dass Newsted es von Flotsam & Jetsam gewohnt ist, die Riffs der Rhythmusgitarre einfach mitzuspielen, nicht ungewöhnlich in diesem Stil. Doch weil sein Instrument und die mächtige Axt von Hetfield sich dank des speziellen Sounds bei den gleichen Frequenzen tummeln, geht er unter. Die Tatsache, dass er seine Spuren in wenigen Tagen ohne viel Führung und Kommunikation nur in Anwesenheit des Toningenieurs Toby Wright eingespielt hatte, verstärkt das Problem noch. Glücklich macht Jason das alles nicht, doch drei Dekaden später und nach seinem Ausstieg 2001 hat er seinen Frieden damit geschlossen. Darauf angesprochen, lässt er meist durchblicken, dass das Album „ist, was es ist“, eine spezielle, nicht perfekte Momentaufnahme. Ein kleiner Trost immerhin: Gleich der erste Song basiert auf einem seiner Riffs…

Lang, länger, Justice

Das vierte Metallica-Album erweist sich als ein komplexer Brocken, ein ebenso brachiales wie anspruchsvolles Machtwerk: Von neun Stücken bleiben nur zwei – knapp – unter sechs Minuten. Jeder Tracks weist unzählige Parts, ungewöhnliche Strukturen, Taktwechsel und gerne natürlich halsbrecherische Tempi auf. Das Bemerkenswerte: Die Truppe schafft es tatsächlich, das alles in sinnvolle Songs zu gießen, meistens zumindest. Ein paar Längen gibt es, aber die sind nichts im Vergleich zum Geschwurbel auf Death Magnetic (2008). Das Songwriting teilen sich wie gewohnt James und Lars, Kirk trägt zu vier Stücken bei, Jason zu einem. Für To Live Is To Die findet eine Idee Burtons Verwendung.

Der Opener Blackened, basierend auf einem flotten 7/4-Riff von Newsted, entwickelt sich schnell zum Publikumsliebling und eröffnet in den nächsten Jahren viele Shows. Auch die Vorabsingle, der Stampfer Harvester Of Sorrow, gibt den Fans live die Gelegenheit, für 5:42 Minuten zu Godzilla zu werden. Herrlich. Der Hit der Scheibe heißt jedoch One: Für diese ebenso epische wie bedrückende Nummer, die sich von einem balladesken Anfang bis zu einem furiosen Finale aufbaut, drehen Metallica sogar ihren ersten Videoclip überhaupt (alles dazu hier). One wird im Januar 1989 als dritte Single veröffentlicht und seitdem bei jedem Gig gespielt.

Die Texte: real und finster

Das vertrackte Eye Of The Beholder hingegen, die zweite Auskopplung Ende Oktober 1988, taucht seit 1989 nicht mehr komplett in der Setlist auf. Ansonsten gehen Metallica mit dem treibenden Titelstück …And Justice For All und dem ausgefuchsten Instrumental To Live Is To Die hart an die Zehn-Minuten-Grenze, was den Akteuren bei ersterem live irgendwann sogar selbst auf die Nerven geht. Im vertrackten The Frayed Ends Of Sanity haut uns Hetfield, der alle Rhythmusgitarren einspielt, in 7:40 Min so viele Riffs um die Ohren wie andere Bands auf einer ganzen Plattenseite, und trotzdem kann er noch einen griffigen Chorus einbauen. The Shortest Straw galoppiert böse und fies, und Dyer’s Eve thrasht so schnell und brutal, dass Metallica die Nummer erst 16 Jahre später auf die Bühne bringen. (Noch mehr zur den neun Tracks von Justice gibt's hier.)

In seinen Texten hat sich James Hetfield längst von Dämonen, Satan, dem wilden Rockerleben und anderen Klischees entfernt. Mehr noch als auf Master Of Puppets beobachtet und kommentiert der damals 25-Jährige die Welt um sich herum, was Lars Ulrich später als die „CNN-Phase“ bezeichnet. Die Themen spannen sich von Umweltzerstörung, Korruption und die McCarthy-Ära über Einschränkung der freien Meinungsäußerung und Folgen des Krieges bis zu mentalem Wahnsinn und einer bitterbösen Abrechnung Hetfields mit seinen Eltern. Nach „Peace & love“ klingt das alles nicht.

Gelächter beim Grammy

…And Justice For All erscheint im Spätsommer 1988. Als offizielles Datum wird drei Dekaden später der 7. September genannt, allerdings gehen viele Online-Quellen vom 25. August aus, damalige Werbeanzeigen zeigen den 5. September, und die Metallica-Homepage verkündet den 6. September. Das grau-weiße Cover zeigt eine auseinander bröckelnde, mit Seilen gefesselte Justitia-Statue, deren Waagschale vor Geldscheinen überquillt. (Das Vorbild steht übrigens in Frankfurt.) Mit dem Album landen Metallica zum ersten Mal in den US-amerikanischen Top Ten, nämlich auf Platz 6, in Deutschland und England sogar noch einen bzw. zwei Plätze höher. Nach neun Wochen erreicht das Werk in den USA bereits Platinstatus für (damals noch) eine Million verkaufter Exemplare. Damit sind Metallica sind auch geschäftlich in der Oberliga angekommen und haben sich als Arena-Headliner etabliert.

1989 werden sie folgerichtig für einen Grammy für „Best Hard Rock/Metal Performance“ nominiert, der in diesem Jahr zum ersten Mal verliehen wird. Sie gelten als haushohe Favoriten und spielen One bei der Zeremonie. Überraschend aber verlieren sie gegen Jethro Tull. Die wiederum sind auf Anraten ihres Managers gar nicht erst erschienen, weil selbst der felsenfest mit einem Sieg der Thrasher gerechnet hat. Die Musikwelt lacht zu Recht über die Grammy-Jury, die die Scharte im Folgejahr durch die Auszeichnung von One auswetzt.

Raus auf die Straße

Doch bekanntlich zählt „auf dem Platz“: Am 11. September 1988 starten Metallica ihre 13 Monate dauernde Damaged Justice-World Tour. Zwei Shows in Seattle im August 1989 werden für das großartige Boxset Live Shit: Binge & Purge auf Video festgehalten und zeigen eine Band, die aus allen Rohren feuert. Die Musiker spielen mit unfassbarer Energie und Präzision und können für die Setlist aus den Vollen schöpfen. Als besonderer Showeffekt fällt die Statue vom Cover, liebevoll „Doris“ getauft, bei den letzten Songs spektakulär auseinander. Sehenswert.

Als Headliner etabliert: Metallica auf der Damaged Justice-Tour. Pic: Ebet Roberts/Redferns

Ein Fazit

Mit Master Of Puppets haben sich Metallica im Heavy Metal künstlerisch an die Spitze gesetzt, mit …And Justice For All führen sie den Weg konsequent fort und haben den Verlust von Burton mehr oder minder überwunden. Von der Soundfrage einmal abgesehen gelten sie mit der Platte noch als unumstritten in der Metal-Welt und gehören zumindest ideell noch zum musikalischen Underground. Die nervigen Diskussionen über metallische Reinheit sollten erst später kommen. Steigern lassen sich die Komplexität und Riffwucht jedoch nicht mehr, weswegen die Band mit dem Folgewerk kompositorisch und klanglich in die Gegenrichtung aufbricht. Das Resultat heißt Metallica (oder: The Black Album) und schießt den Stern der vier Musiker durch die Stratosphäre. Aber das ist eine andere Geschichte…