Es ist immer wieder erstaunlich, unter welchem Druck die Beatles die fantastischsten Alben produziert haben. Für Rubber Soul, ihr sechstes Album, hatten sie gerade einmal vier Wochen Zeit, denn das Album sollte rechtzeitig fürs Weihnachtsgeschäft in den Läden stehen. Davor waren Lennon, McCartney, Harrison und Starr monatelang auf Tour gewesen. Körperliche und artistische Erschöpfung wären eine ganz normale Folge gewesen.
Andere Musiker wären unter der Ankündigung, in vier Wochen ein erfolgreiches Album zu produzieren, vermutlich kollabiert. Auch ein Aspekt, der eine Supergroup von normalsterblichen Bands unterscheidet. Und dann spielt man auch nicht irgendein Album ein, dem Weihnachtsmann und dem Weltfrieden zuliebe, sondern ein echtes Kunstwerk wie es auch spätere experimentelle Alben wie Revolver oder Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club sein würden.
Musikwissenschaftler tippen sich wie bei vielen Beatles-Werken noch heute die Fingerkuppen wund beim Versuch, die herausragende Bedeutung des Albums für den Kanon der Popmusik zu bestimmen, so auch bei Rubber Soul. Der Rolling Stone hievte es im Jahr 2012 auf Platz 5 der 500 wichtigsten Alben aller Zeiten, dazu erhielt es Platinum-Status in Großbritannien und landet regelmäßig unter den Best-of-Alben verschiedenster Magazine.
Im August 1965 kamen die Beatles von ihrer Nordamerika-Tour zurück und begannen, beeinflusst von so verschiedenen Stilen wie Soul, Bob Dylans neuerdings elektrisch-verstärktem Folkrock, einer guten Portion Country (zu hören etwa auf What Goes On) und George Harrisons wachsendem Interesse an indischer Musik, mit dem Schreiben des Albums.
Auch wenn The Kinks das Instrument streng genommen zuvor für ihren Sound entdeckt hatten: Norwegian Wood, geschrieben von McCartney und mit dem Sitarspiel von Harrison unterlegt, sorgte für einen 60er Jahre Hype dieses Instruments und indischer Musik und Kultur im allgemeinen. Norwegian Wood gilt mittlerweile als Grundstein für die Entstehung der World Music. Und alles nur, weil Harrison begann, sich exzessiv für alles zu interessieren, was aus Indien in die westliche Welt herüberwehte. Sitarunterricht nahm er natürlich beim größten Sitarspieler überhaupt: Ravi Shankar.
Weitere musikalische Reisen sind im Song Michelle zu entdecken, ein Song, der mit einem Baguette unter dem Arm an der Seine entlang flaniert, oder Girl, das griechischen Sirtaki tanzt und ein bisschen zu viel Ouzo getrunken hat. In My Life bezirzt durch eine wunderschöne Bridge mit einem Klavier, das klingt wie ein Cembalo. Und keiner der Fab Four blieb in seiner Entwicklung zurück. Ringo Starr experimentierte mit einer Reihe ungewöhnlicher Percussion-Instrumente wie Rumbakugeln und einem Tamburin, heute ganz selbstverständlich im Repertoire vieler Drummer. Der Song Wait ist mit seinem Acapella-Einstieg ganz und gar ungewöhnlich und wird erst im Chorus wieder als Beatles-Song erkennbar. Er klingt avantgardistisch und gleichzeitig nach Gospel. Diese Melange muss man erst einmal hinbekommen!
Und auch mit den Lyrics begibt sich Rubber Soul auf neue Wege. Die Texte sind dichter, weit weniger profan als so manch früher Song der Vier (“She Loves You, yeah yeah yeah”). Es wird mehrdeutiger, kryptischer, geheimnisvoller und auch etwas pessimistischer. Aber es ist ein guter Pessimismus, denn die Welt besteht nun einmal nicht aus den immer gleichen Happily-ever-after-Narrativen. Norwegian Wood beispielsweise erzählt auf ehrliche Weise von einer gescheiterten Zusammenkunft:
She told me she worked
In the morning and started to laugh
I told her I didn't
And crawled off to sleep in the bath
And when I awoke I was alone
This bird had flown
So I lit a fire
Isn't it good Norwegian wood?
Oder George Harrisons Think For Yourself, in dem er sich und seine Verflossene dazu aufruft, sich um sich selbst zu kümmern:
I left you far behind
The ruins of the life that you had in mind
And though you still can't see
I know your mind's made up
You're gonna cause more misery
Do what you want to do
And go where you're going to
Think for yourself
'Cause I won't be there with you
Wie alles, was die Beatles anrührten, war auch Rubber Soul ein durchschlagender Erfolg. Als das Album am 3.12.1965 veröffentlicht wurde, konnten die Plattenläden gar nicht schnell genug Nachschub bestellen, so gierig wurde ihnen die Platte aus den Händen gerissen. Das Album sollte 42 Wochen in den Albumcharts bleiben und in der zweiten Woche auf Platz 1 wandern. Da blieb es dann acht Wochen sitzen wie ein Opa in seinem Ohrensessel.
Will man die Entwicklung der Beatles von der ersten Boy Group mit ohnmächtigen Girls als Fans zu der wahrscheinlich einflussreichsten Supergroup überhaupt verstehen, einer Band mit einem unerschöpflichen Ideenreichtum, mit Experimentierfreude und unstillbarer Neugierde, dann ist die Beschäftigung mit Rubber Soul ein wichtiges Kapitel Beatles-Geschichte.