Die besten Livealben der Musikgeschichte: 10 Klassiker, die sich so anfühlen, als wäre man tatsächlich live dabei
popkultur07.05.20
Im Studio Magie entstehen zu lassen und diese besonderen Momente festzuhalten, das ist eine Sache. Wenn es Musiker*innen jedoch gelingt, diese Art von Zauber auch auf der Bühne entstehen zu lassen, ist das sogar noch umwerfender – weil das Publikum diesen Ausbruch von Kreativität ganz direkt und ungefiltert miterleben darf und direkt darauf reagieren kann.
von Renko Heuer
Die größten Liveaufnahmen der Geschichte halten nicht nur derartige Augenblicke fest, sie fangen zugleich die Essenz und die unvergleichliche Energie einer Band ein: Beim Anhören der Mitschnitte hat man daher das Gefühl, man wäre wirklich live dabei und könnte jene oftmals legendären Abende selbst miterleben. Hier sind die 10 ultimativen Livealben, die tatsächlich ein bisschen wie musikalische Zeitreisen funktionieren.
10: Thin Lizzy: Live And Dangerous (1978)
Nach dem sensationellen Erfolg ihres Studioalbums Bad Reputation, das 1977 bis auf Platz 4 in den britischen Albumcharts geklettert war, fassten Thin Lizzy den Entschluss, nun erst mal eine Live-LP nachzulegen: Für die irische Band so oder so eine naheliegende Wahl, schließlich galten sie damals bereits als sensationeller Live-Act. Gitarrist und Sänger Phil Lynott setzte für die Aufnahme auf den Produzenten Tony Visconti, der danach im Pariser Studio Des Dames alles abmischte, wobei er zum Teil mit Overdubs arbeitete, um ein einheitlicheres und gleichmäßigeres Klangbild zu erzielen. Auch Live And Dangerous wurde ein kommerzieller Hit – und U2 bezeichneten das Album später als einen ihrer frühesten Einflüsse. Zu den Gastmusikern zählt übrigens auch Huey Lewis, hier als „Bluesey Lewis“ vermerkt; er darf die Mundharmonika zu Baby Drives Me Crazy beisteuern.
9: Johnny Cash: At Folsom Prison (1968)
Die Aufnahme von Johnny Cashs legendärem Konzert im kalifornischen Folsom State Prison, die am 13. Januar 1968 gemacht wurde, zählt ganz klar zu den besten Livealben in der Geschichte der Countrymusik. Cash, der sich damals mit Klassikern wie I Walk The Line und Ring Of Fire bereits einen Namen gemacht hatte, war selbst durchaus bewandert im Bereich der menschlichen Schwächen und Fehltritte. Das Mitgefühl, das er für die Insassen hatte, entlockte ihm eine echte Ausnahme-Performance. In seinem Set präsentierte er unter anderem den passenden Folsom Prison Blues – jenen Song aus dem Jahr 1955, in dem ein Mann einen anderen in Reno umlegt, „just to watch him die“ –, sowie eine leidenschaftliche Version des Traditionals Dark As A Dungeon. Ein bewegend ehrliches, ungeschöntes Meisterwerk.
8: Talking Heads: Stop Making Sense (1984)
Eines der legendärsten Fashion-Statements im schillernden Popzirkus der Achtziger war David Byrnes „big suit“, sein ikonischer Riesenanzug – und genau dieser Hang zur Selbstinszenierung bricht auch auf Stop Making Sense, dem Livealbum der Talking Heads aus dem Jahr 1984, immer wieder durch. Für den Song Psycho Killer, der hier so druckvoll wie selten klingt, setzten sie sogar auf Bläser und mehrstimmigen Hintergrundgesang; auch die Version von Take Me To The River ist regelrecht betörend. Vor allem unterstreicht dieser Konzertfilm – übrigens der erste Rockmitschnitt, dessen Sound komplett digital aufgenommen wurde – und das dazugehörige Soundtrack-Album, warum es so grandioser Spaß war und ist, dieser schrägen, smarten Pop-Institution zuzuschauen.
7: Peter Frampton: Frampton Comes Alive! (1976)
„We’d like to get a bit funky now“, sagt Peter Frampton, bevor der Song Doobie Wah beginnt – was die Sache schon sehr gut auf den Punkt bringt. Ausgelassene und tanzbare Tracks gibt es nämlich reichlich auf Frampton Comes Alive!, das nach der Veröffentlichung im Jahr 1976 ganze 97 Wochen lang in den US-Charts vertreten war. (Im Leserpoll des US-Rolling Stone wurde der Mitschnitt sogar zum Album des Jahres gewählt). Der damals 26-jährige Sänger und Gitarrist Frampton bekam Unterstützung von Bob Mayo (Rhythmusgitarre, Klavier, Fender Rhodes, E-Piano und Hammondorgel), Stanley Sheldon (Bass) und John Siomos (Schlagzeug). Mit Show Me The Way, Baby, I Love Your Way und Do You Feel Like We Do gibt es sogar richtige Hitsingles auf der LP, wobei die mitreißende Sieben-Minuten-Version des Stones-Klassikers Jumpin’ Jack Flash auch nicht zu verachten ist.
6: James Brown And The Famous Flames: Live At The Apollo (1963)
Ursprünglich veröffentlichte James Brown diesen Konzertmitschnitt, der im Oktober 1962 im Apollo Theater in Harlem aufgezeichnet wurde, auf seinem eigenen Label King Records. In der legendären Konzerthalle an der 125. Straße erlebt man den damals noch nicht mal 30-jährigen Godfather Of Soul in absoluter Höchstform. Seine unverbrauchte, energiegeladene Stimme wird perfekt eingerahmt von The Famous Flames, einem Gesangstrio bestehend aus Bobby Byrd, Bobby Bennett und Lloyd Stallworth. Das herzzerreißende Please, Please, Please fungiert als Auftakt zu einem Medley, das gleich acht Songs vereint, worauf Live At The Apollo mit einer leidenschaftlichen Coverversion von Jimmy Forrests Blues-Klassiker Night Train ausklingt. Nach diesem Abend in Harlem war klar, mit welcher Leichtigkeit es James Brown schaffte, ein Publikum in seinen Bann zu ziehen.
5. KISS: Alive! (1975)
Eine Zusammenstellung aus mehreren Konzertaufnahmen war es, die KISS im Herbst 1975 endgültig zu Rock & Roll-Superstars machen sollte: Alive! kletterte in den Staaten bis in die Top-10, und auch die programmatische Single Rock And Roll All Nite schaffte es auf Platz 12. Das Album vereint alles, was sich ein Hardrock- oder Metal-Fan wünschen kann: „The Demon“ (Gene Simmons), der hier knallhart den Bass bearbeitet, dazu die Gitarrenstunts von Paul Stanley und Schlagzeuger Peter Criss im Vollgasmodus. Das Energielevel ist dermaßen hoch, dass man sich der Musik unmöglich entziehen kann, und die elektrifizierten Versionen ihrer frühen Songs sind so haarsträubend grandios, dass Alive! seit rund viereinhalb Dekaden zu den größten Live-Meilensteinen der Menschheitsgeschichte gezählt wird.
4: Nirvana: MTV Unplugged In New York (1994)
Als das Unplugged-Format von MTV in den frühen Neunzigern mehr und mehr Künstler dazu inspiriert hatte, auf Verstärker & Co. zu verzichten, gaben sich Ende 1993 auch Nirvana die Ehre. Erscheinen sollte das Album erst rund ein Jahr später, betitelt MTV Unplugged In New York, und mit About A Girl gab es auch nur eine einzige Auskopplung – als sie erschien, war ihr Autor Kurt Cobain bereits sechs Monate lang tot. Fünffach mit Platin ausgezeichnet in den USA, konnten die verbleibenden Bandmitglieder hinterher den Grammy für das „beste Alternative-Album“ in Empfang nehmen. Obwohl sie größtenteils unbekannte Songs spielten, kamen bei den Fans die Akustikversionen von Dumb und All Apologies richtig gut an – wie auch die vielen Coversongs (beispielsweise The Man Who Sold The World von David Bowie). Schlagzeuger Dave Grohl, der wenig später die Foo Fighters gründen sollte, steuerte zur Coverversion des parodistischen Titels Jesus Wants Me For A Sunbeam den Hintergrundgesang bei. Insgesamt ein ergreifender Beleg für Cobains musikalisches Genie.
3: The Rolling Stones: Get Yer Ya-Ya’s Out!: The Rolling Stones In Concert (1970)
Get Yer Ya-Ya’s Out!, aufgenommen am 27. und 28. November 1969 in Baltimore und im New Yorker Madison Square Garden, war das allererste Livealbum, das es in den britischen Charts bis auf Platz 1 schaffen sollte. Das schräge, ironische Cover, auf dem Charlie Watts zu sehen ist, wurde von David Bailey geschossen; der dazu passende Albumtitel stammt eigentlich vom Blues-Sänger Blind Boy Fuller, der komplett erblindet war und einen Teil seiner Karriere im Knast verbrachte, weil er seiner Frau ins Bein geschossen hatte. Mick Jagger & Co. amüsieren sich prächtig an der US-Ostküste – das hört man nicht nur in einer fast schon prahlerisch wirkenden Version von Midnight Rambler. Die Gitarreneinlagen von Keith Richards sind legendär, woraufhin die ausgelassene Show mit grandiosen Interpretationen von Honky Tonk Women und Street Fighting Man ausklingt. Eines der essentiellsten Rockstatements der Rolling Stones, vereint die Deluxe-Version von Get Yer Ya-Ya’s Out! obendrein Gastauftritte von Schwergewichten wie B.B. King und Tina Turner.
2: The Allman Brothers Band: At Fillmore East (1971)
Obwohl ihre vorherigen Bands The Second Coming und Hour Glass recht schnell wieder zerfallen waren, wagten die Allman-Brüder Duane und Gregg mit ihrer gleichnamigen Band noch einen weiteren Anlauf – und nahmen in dieser Konstellation schon 1971 eines der größten Livealben der Geschichte auf: At Fillmore East. In der berühmten New Yorker Konzerthalle wurden Sänger Gregg (außerdem Orgel, Klavier) und Gitarrist Duane von dem Leadgitarristen Dickey Betts, dem Bassisten Berry Oakley, dem Mundharmonikaspieler Thom Doucette, Congas-Spieler Jai Johanny Johanson, Schlagzeuger Butch Trucks und dem Percussionisten Bobby Caldwell unterstützt. Der Mix aus Blues und (Southern) Rock geht sofort ins Blut: Highlights sind ganz klar ihre Version von Blind Willie McTells Statesboro Blues oder auch Klassiker wie Stormy Monday, Trouble No More und Done Somebody Wrong. Letztlich ist es das grandios wuchtige Zusammenspiel von Gitarre, Schlagzeug und Hammond-Orgel, das für diesen unverwechselbaren „Wall Of Sound“-Nachdruck sorgt, den man seither mit dem Nachnamen der Brüder verbindet. Diese Druckwelle macht At Fillmore East zu einem Album, das sich auch knapp 50 Jahre später so anfühlt, als wäre man live dabei.
1: The Who: Live At Leeds (1970)
Gegen Ende der Sechziger hatten The Who längst ihren Ruf weg: Sie galten als eine der größten Livebands der Welt. So verwundert es nicht, dass ein halbes Jahrhundert später dieses Album auf Platz 1 dieser Liste landet: Live At Leeds. Die New York Times bezeichnete das im Februar 1970 auf dem Uni-Campus von Leeds aufgezeichnete Konzert schon damals als „bestes Live-Rockalbum aller Zeiten“. Allein die Songauswahl: The Who spielten in der nordenglischen Stadt sogar ein überraschendes Stück wie Young Man Blues, komponiert von Jazz-Altmeister Mose Allison. Auch ein Cover von Sonny Boy Williamsons Eyesight To The Blind gaben sie zum Besten, eingestreut zwischen frühen Hits wie I Can’t Explain und Happy Jack sowie einer verlängerten Variante des damals aktuellen Songs Tommy. Das abschließende Medley – inklusive My Generation und Magic Bus – fungierte als perfektes Finale für Roger Daltrey, Pete Townshend, John Entwistle und Keith Moon. „Für die Aufnahme haben wir hinterher kaum neue Spuren ergänzt“, sagte Daltrey einst. „Genau genommen mussten wir sogar eher Dinge wegnehmen... besonders das Publikum, weil man sonst zu wenig von der Musik gehört hätte.“ Das sagt eigentlich schon alles.