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Foto: Maurice Seymour/Michael Ochs Archives/Getty Images

Mensch-Maschinen-Musik: Die 10 wichtigsten Songs von Kraftwerk

„Es wird immer weitergehn: Musik als Träger von Ideen.“ Diese Textzeile aus Techno Pop sagt alles aus über das Musikverständnis der Düsseldorfer Elektronikpioniere.

von Michael Döringer

Sie wussten ganz genau, welche gesellschaftliche Kraft in der Musik steckt, was Kunst alles sein kann. Von den Krautrock-Anfängen bis zu ihrer Renaissance in den 1990er- und 2000er-Jahren: Das sind die wichtigsten Songs von Ralf Hütter, Florian Schneider und ihren Mitstreitern.

1. Ruckzuck (von Kraftwerk 1, 1970)

Ruckzuck eröffnet das erste Album von Kraftwerk. Von den berühmten Robotern ist hier erst mal noch wenig zu hören. Die Band besteht zunächst nur aus Ralf Hütter und Florian Schneider, Drums spielt teilweise Klaus Dinger, der im Jahr 1971 mit Michael Rother (ebenfalls kurz bei Kraftwerk) die Gruppe Neu! gründen wird. Hütter spielt eine elektronische Orgel, es gibt „elektrische“ Percussion, doch ansonsten dominiert hier progressiver Experimentalrock das Klangbild – filigran und doch erdig. Besonders Schneiders Querflöte sticht in Ruckzuck heraus, er spielt auf dem Album außerdem Violine. Auch der Produktion von Conny Plank und seinem Einfallsreichtum im Studio ist dieser wilde Musique-Concrète-Rock zu verdanken. Über Plattenfirmen-Irrwege war das Album damals nur als Import in Deutschland verfügbar und floppte folglich. Einer der Gründe für den Gründungsmythos des Krautrock, nach dem die Musik im eigenen Land nicht wahrgenommen, aber gleichzeitig etwa in England bewundert wurde.

2. Tanzmusik (von Ralf und Florian, 1973)

Auf dem dritten Kraftwerk-Album begann eine Idee zu reifen: Zum ersten Mal wurden Synthesizer eingesetzt, es tauchen frühe Versuche mit Vocoder-Stimmen auf, was später ein Markenzeichen werden sollte. Wie der Albumtitel andeutet, waren neben Produzent Conny Plank musikalisch nur Hütter und Schneider involviert. Der Drummer wurde durch Rhythmus-Presets der Orgel ersetzt, wie man im passend betitelten Tanzmusik hört. Die ersten drei Alben von Kraftwerk wurden übrigens nie als CD oder digital neu aufgelegt, die Band distanziert sich von ihrem Frühwerk, verleugnet es gar. Es mag vielleicht nicht ideal ins Gesamtkunstwerk ab Autobahn passen, ist aber doch wichtig, um den Weg dieser Musik nachzuvollziehen.

3. Autobahn (von Autobahn, 1974)

Autobahn war der Beginn einer neuen Ära für die Gruppe, die jetzt mit Wolfgang Flür ein neues festes Mitglied hatte. Karl Bartos stieß 1975 dazu und komplettierte die klassische Besetzung. Der Titelsong des vierten Albums ist wohl mit der berühmteste Kraftwerk-Song aller Zeiten – seine Mischung aus Simplizität, pittoresken Melodien und – gerade in der langen Version – unzähligen Klangspielereien und elektronischen Tricks ist immer noch beeindruckend. Dank diesem Song gelang Kraftwerk der internationale Durchbruch. Deutsche Popmusik in den amerikanischen Charts, das gab es so noch nie. Der Rest des Albums ist nicht ganz so eingängig, aber bis heute eine Fundgrube an abenteuerlichen Soundideen.

4. Radioaktivität (von Radioaktivität, 1975)

Kraftwerk waren ihrer Zeit immer voraus. Nicht nur musikalisch, auch was gesellschaftliche und technologische Themen betrifft. Radioaktivität ist ein Konzeptalbum, das die Wunderwelt der Kernkraft beleuchet – weder dezidiert kritisch noch überaffirmativ, im Prinzip neutral und wissenschaftlich. Der Titelsong hat sich über die Jahrzehnte allerdings gewandelt: Nach den Reaktorkatastrophen in Tschernobyl, Harrisburg und Fukushima spielten Kraftwerk den Song live mit anderem Text: „Say no to radioactivity.“ Eine klare Stellungnahme zur einstigen Zukunftstechnologie.

5. Trans Europa Express (von Trans Europa Express, 1977)

Technologiebegeisterung und Zukunftsgläubigkeit mischten sich bei Kraftwerk immer mit einer gewissen Nostalgie. Auf Trans Europa Express ist ein Stück dem Komponisten Franz Schubert gewidmet, Spiegelsaal erinnert an den barocken Spiegelsaal von Versailles, die Synthesizer bekommen oft die Klangfarben eines Cembalos. Und doch ist der Sound der Platte völlig futuristisch, die Hymne auf die Möglichkeit der schnellen Langstreckenzugreise mit dem TEE ist typisch technikverliebt. Sie verlassen Paris am Morgen, laufen ein in Düsseldorf City, „und treffen Iggy Pop und David Bowie – Trans Europa Express“. Ein Hoch auf die moderne Welt. Kraftwerk waren seit Autobahn Stars in den USA, und auch diese Platte fand ihren Weg zu allen möglichen Hörern. Trans Europa Express wurde in Afrika Bambaataas Planet Rock gesamplet, einem der wichtigsten frühen Hip-Hop- und Electro-Songs.

6. Die Roboter (von Die Mensch-Maschine, 1978)

„Wir sind die Roboter“ – mit dieser einen Textzeile gaben sich Kraftwerk auf immer ihr maßgeschneidertes Image. Die Roboter ist einer der großen Pop-Hits der Band, die jedes Kind kennt. So simpel und kinderfreundlich wie der Song anmutet, so genial und visionär ist er im Detail. Abgesehen von den perfekten Text-Slogans ist der Song wohl die definitive Schnittstelle in der Entwicklung der elektronischen Musik: Hier treffen sich Vergangenheit und Zukunft, man erkennt einen ästhetischen Bogen von früher Theremin-Science-Fiction-Musik bis zu Daft Punk.

7. Computerwelt (von Computerwelt, 1981)

„Finanzamt und das BKA, haben unsere Daten da.“ Mit den süßesten Synth-Melodien entwerfen Kraftwerk ein dystopisches Bild unserer digitalen Zukunft. Computerwelt erklärt „Big Data“ in einer Zeit, zur der Internet und Smartphones noch unvorstellbar waren. Es läuft einem der kalte Schauer über den Rücken, wenn man dieses explizite Verständnis der technologischen Entwicklung heute hört. Die Warnsignale waren da, so viel ist klar.

8. Nummern (von Computerwelt, 1981)

Hier könnten auch Taschenrechner oder Computerliebe stehen. Letzteres haben Coldplay mit Talk per Sample unterschwellig einem riesigen Publikum untergejubelt. Nummern ist erneut ein Meilenstein in der Entwicklung von Electro und Techno: Es wird wie Trans Europa Express in Planet Rock gesamplet, aber auch in anderen frühen Detroit-Electro-Tracks wie Clear von Cybotron – das war die Band von Juan Atkins, einem der Gründerväter von Techno in Detroit. Ob man sich für diese Musik nun begeistern mag oder nicht – die Inspiration, die von Kraftwerks Musik ausging, ist mehr als beeindruckend.

9. Tour De France (1983)

Kraftwerks Musik ist keineswegs die blutleere Maschinenmusik, für die man sie manchmal halten mag. Mensch-Maschinen-Musik ist das Stichwort. Das menschliche Element bestimmt fast jeden ihrer Songs. In der Single Tour De France ist der menschliche Atem der Taktgeber für den Beat. Dass Kraftwerk nach ihren Lobgesängen auf Autobahn, Radioaktivität und den Zug nun Songs über das Radfahren schreiben, wirkt erst mal unlogisch. Der Grund liegt in Ralf Hütters privater Fahrradobsession. Es heißt, dass sich Hütter auf Tour immer auf der Strecke absetzen ließ und die letzten 100 Meilen zum Ziel geradelt ist, während der Rest der Truppe im Bus reiste. Nach einem Radunfall erlitt Hütter 1982 eine schwere Kopfverletzung und lag sogar kurz im Koma.

10. Expo 2000 (1999)

Dass Kraftwerk auch Jahrzehnte nach ihren ersten Pionierleistungen immer noch wussten, wie man den Sound der Zukunft entwirft, zeigten sie mit einer Auftragsarbeit für die Expo 2000 in Hannover. Kraftwerk wurden engagiert, um einen kurzen Jingle für die Weltausstellung zu komponieren. Daraus entwickelten sie dann diese Single, in der sie ihren klassischen Sound aufgreifen und mit einem sehr tanzbaren Rhythmus und modernem Soundesign verbinden. Andere bissen sich die Zähne an der schlüssigen und ausbalancierten Verbindung von Clubmusik und Zukunftsvisionen aus. Expo 2000 klingt so, als wäre es für Kraftwerk das leichteste. Der ursprüngliche Jingle war übrigens 30 Sekunden lang und wurde mit 400.000 Mark vergütet. Die Kritik an dieser Summe war groß. Aber Kraftwerks Kunst ist sowieso unbezahlbar.