Von den einen als „singende Altkleidersammlung“ verunglimpft, von den anderen innig geliebt: Die Kelly Family spaltete ab den Achtzigern die Gemüter. Mit Over The Hump gelingt der Folk-Familie aber ein kommerzieller Durchbruch, den wenige andere Bands erleben. Und das hat gute Gründe.
1994 ist die Kelly Family plötzlich überall. Ihre Musik ist in TV, Radio und Presse allgegenwärtig, ihr Leben auf einem Hausboot bis ins Kleinste durchdrungen, ihr Ruf irgendwo zwischen Spott und Bewunderung. Ob man sie aber nun mag oder nicht damals Mitte der Neunziger: Es gibt niemanden, der die reisende Folk-Familie nicht kennt. Oder keine Meinung dazu hat.
Dabei haben die Kellys damals schon eine ganze Karriere hinter sich, wenn man so will. Und wer die Hintergründe dieser außergewöhnlichen Familie kennt, versteht auch besser, wieso sie mit ihrem achten Studioalbum Over The Hump so dermaßen durch die Decke gehen konnte. Schon in den Siebzigern zieht die Familie durch Europas Fußgängerzonen, um als Straßenmusikerbande Volkslieder aus aller Welt zu schmettern und damit ihr Geld zu verdienen. Sie düsen in ihrem berühmten englischen Doppeldeckerbus durch die Lande, lassen sich aber Ende der Siebziger in Stuttgart nieder, wo einige Kellys sogar die renommierte John-Cranko-Ballettschule besuchen.
250.000 verkaufte Platten in der Fußgängerzone
Es folgen erste Plattendeals, Nummer-eins-Hits und immer mehr Auftritte in Fernsehshows. Der Krebstod von Barbara-Ann Kelly stürzt Vater Dan in die Alkoholsucht, das Jugendamt macht Druck, er kommt von der Sucht los, siedelt aber erst mal in die USA über, um der Schulpflicht zu entgehen. Durchaus eine kontroverse Entscheidung. Ende der Achtziger geht es für die Kellys dann aber zurück nach Deutschland – und von hier weiter und weiter nach oben. Der Bus wird gegen das Hausboot getauscht, bald spielen sie bis zu drei Konzerte auf Europas Straßen und verkaufen mehr und mehr Platten. Von Wow, das erstmals Eigenkompositionen enthält, setzen sie nach eigenen Angaben 250.000 Stück ab. Nur durch Straßenverkauf.
Die Jugendzeitschrift BRAVO entdeckt sie, die Konzerte werden größer und größer. Dann ist es Zeit für den ganz großen Durchbruch: Die nächste Platte Over The Hump wird in Köln aufgenommen und erscheint am 26. August 1994 erstmals bei einem Majorlabel. Und auf einmal läuft es wie geschmiert: Das Album klettert in Deutschland, Österreich und der Schweiz auf die Spitzenposition der Charts. Mit rund 2,5 Millionen Exemplaren ist es das meistverkaufte Album der Kelly Family in Deutschland . Viermal Platin gibt es dafür, 110 Wochen ist das Werk in der deutschen Hitliste, davon 51 Wochen in den Top 10.
Zwei Jahrzehnte Aufbauarbeit
Der Erfolg ist zu diesem Zeitpunkt also alles andere als ein Zufall. Rund zwei Jahrzehnte steht die Band bei jedem Wetter, Sommer wie Winter, Regen wie Hitze, in den Fußgängerzonen, reist durch die ganze Welt, bringt ihre Musik unermüdlich zu den Leuten. Ein äußerst entbehrungsreiches Leben, insbesondere für die jüngeren Mitglieder der Familie, das ist ganz klar. Aber eben auch ein Leben in der Tradition des fahrenden Volks, ein Leben für die Musik. Das hat ihnen bis 1994 neben Millionen Fans aber eben auch Millionen Neider und Spötter eingebracht.
Sie sind das Gespött vieler TV-Moderator:innen, werden als „singende Altkleidersammlung“ verunglimpft, als schmuddelige Bande von Hippies, deren Hygiene sehr zu wünschen übrig lässt. Alles Quatsch natürlich, aber zum Zenit ihres Erfolgs rund um Over The Hump allgegenwärtig. Es galt als maximal uncool, die Band zu hören – und das, obwohl insbesondere ihr großer Durchbruch mit einer gelungenen Mischung aus Rock, Folk und Pop überzeugen kann. Das ist ein großer Schritt von ihren anfänglichen Covern von Volksliedern und Schlagern.
Von Straßenmusikern zu Teenie-Idolen
Alles gipfelt in der Ballade An Angel, die Paddy Kelly für seine verstorbene Mutter schreibt. Der Song wird zum Riesenhit, die beiden Kellys in der Folge zu echten Teenie-Idolen und Mädchenschwärmen. Dadurch tritt die Kelly Family in eine neue Ära ein. Öffentliche Auftritte als Straßenmusiker:innen sind nicht mehr denkbar, um ihr Hausboot in Köln wird eine Mauer gezogen, Sicherheitskräfte begleiten die Band auf Schritt und Tritt.
Am 24. Juni 1995 spielen sie in Wien vor über 250.000 Menschen. Bald darauf ziehen sie in ein Schloss und beschäftigen 200 Festangestellte. Nicht übel für eine Band, die ihre Karriere in einer Fußgängerzone begonnen hat. Bis heute sind die Kellys Dauergast in den oberen Chartregionen – erst 2019 konnten sie zum 25. Geburtstag von Over The Hump mit 25 Years Later abermals große Erfolge feiern. Und hört man sich die irisch geprägten Lieder dieses sagenhaften Erfolgsalbums an, weiß man auch, weshalb: Sie sind im besten Sinne zeitlos. Und keinen Tag gealtert.