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Foto: Michael Ochs Archives/Getty Images

Die wundersame Wandlung der Bee Gees zum Disco-Phänomen

TV-Tipp: Am 13. Juni widmet sich der Sender VOX ab 20:15 Uhr in der vierstündigen Doku „Stayin’ Alive’ – Die spektakuläre Story der Bee Gees“ einer der erfolgreichsten Bands aller Zeiten. Über 60 Jahre nach Gründung der Bee Gees wird ihr Werdegang mit exklusiven Interviewaufnahmen von Barry Gibb, privatem Filmmaterial, Aufnahmen von Live-Auftritten und Musikvideos sowie Interviews mit Expert*innen und Weggefährt*innen nachverfolgt.

Es mag so wirken, dass den Brüdern Gibb die Polyester-Anzüge auf den Leib genäht waren, doch es gab tatsächlich ein Leben vor der Disco: Ein Leben, um genau zu sein, das einige der wunderbar melancholischsten Popsongs aller Zeiten abwarf. Wieso zum Travolta wurde dann eigentlich die Discokugel angeworfen?

von Björn Springorum

Hört die größten Hits der Bee Gees in dieser Playlist:

Als das Falsett kommt, ändert sich alles: Kein anderer großer Paradigmenwechsel der Popmusik lässt sich allein anhand einer geänderten Stimmlage erklären. Der Verantwortliche hinter dieser Wasserscheide ist natürlich Barry Gibb, der auf Main Course von 1975 urplötzlich eine ganze Ecke höher singt als auf den vorherigen zwölf Alben der Bee Gees und neben einem mächtigen Comeback auch eine neue Ära einläutet. Fast schon eine direkte Trennlinie lässt sich ziehen zwischen diesem Werk und allem, was die Gebrüder Gibb davor abliefern. Disco und Funk statt Folk-Pop, Rock und Prog: Was ist da passiert bei der Familienbande, die in den Fünfzigern noch unter dem Namen The Rattlesnakes für Aufsehen in Manchester sorgte?

Meister der Melancholie

Nicht ganz eindeutig zu beantworten, diese Frage. Deswegen kann man sich der Wandlung der Folk-Pop-Gefühlsmenschen zum Discoschlager auf verschiedenste Weise annähern. Man kann es natürlich auf die Siebziger an sich schieben, an denen Disco fast schon als despotischer Alleinherrscher auf dem Thron sitzt und alle anderen Genres schön klein hält. Man kann sich aber auch tief hinein begeben in die Historie einer der erfolgreichsten Bands aller Zeiten (verkaufte Alben: über 200 Millionen). Nach Startschwierigkeiten und einiger Zeit in Sydney kehrt die Band Mitte der Sechziger nach England zurück und wird binnen kürzester Zeit zum gefühlt größten Pop-Ding seit der Ankunft der Beatles. Bee Gees 1st, das erste international verlegte Album der Band, und insbesondere hinreißend melancholische, in Harmonie gesungene Songs wie New York Mining Disaster 1941 oder große Balladen wie To Love Somebody machten Barry, Robin und Maurice Gibb zu Superstars.

Kein halbes Jahr später erscheint Horizonal. Darauf enthalten: Massachusetts, einer der größten Erfolge des Musikjahres. Der bringt sie im Februar und März auch für eine Reihe von legendären Konzerten nach Deutschland, wo sie – unterstützt von Procul Harum – Begeisterungsstürme ernten, die man eigentlich nur von der Beatlemania kannte. Der Erfolg ist vollkommen, die Kassen klingeln, die Fans jubeln, die Bee Gees sind eine der gefragtesten und beliebtesten Bands der Welt. Mit Idea erscheint 1968 sogar noch eine Platte, auf der unter anderem das sagenhaft traurige I Started A Joke wartet. Geht ebenso durch die Decke, das alles, zehrt aber auch an den Urhebern: Die Band ist kurze Zeit später am Ende. Die 1969 veröffentlichte Kompilation Best Of Bee Gees kann als Schlussstrich unter eine beispiellose Karriere gesehen werden, nach dem nichts mehr so ist wie zuvor.


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Die Clubs werden kleiner

Robin Gibb ist bei Erscheinen des Best-Of schon draußen, am 1. Dezember 1969 geben auch Barry und Maurice auf. Wie es aber eben so ist, merken alle recht bald, dass es allein eben doch nicht so einfach und besonders ist wie mit der geballten Kreativität. Mal ganz zu schweigen von den unerreichten Harmonien. Ein Comeback ist die Folge, das aber nach einer kurzen stellaren Phase schnell stagniert. Schon wieder. Genau hier kommen wir zurück zu unserer eingangs formulierten Frage, wie zum Henker die Bee Gees von den Königen der Pop-Melancholie zu den Kronprinzen der Disco-Ära werden konnten. Die Antwort ist profan, aber einleuchtend: Weil eine neue Idee her muss. 1974 finden sich die einstigen Megastars urplötzlich in kleinen Clubs wieder. Und das, so sind sich alle zur Abwechslung mal einig, kann ja auch nicht das Wahre sein.

Die Bee Gees im Jahr1970. Foto: Michael Ochs Archives/Getty Images

Funk und Falsett

Letztlich ereilt die Bee Gees natürlich das Schicksal, das alle Sixties-Band ereilt, die es irgendwie in die Siebziger geschafft haben: Es scheint kein Platz mehr für jene Vorreiter der Rockstars, für die Chansoniers der Gegenkultur. Verdrängt von Disco, Funk und dem aufkeimendem Furor des Punk, wirken die Sechziger plötzlich altbacken, anachronistisch. Es ist also Zeit für eine anständige Generalüberholung, für eine Neuerfindung. Dafür ist ihnen jedes Mittel recht. Mr. Natural, ein erster Versuch, Soul, R‘n‘B und Funk im Bee-Gees-Sound unterzubringen, scheitert zwar noch an Unbeholfenheit und fehlender Überzeugung für den neuen Stil, doch schon ein Jahr später sieht das anders aus. Eric Clapton schickt sie nach Miami, wo sie Main Course schreiben, Produzent Arif Mardin überredet sie zu Funk und Falsett. Und plötzlich zündet sie, die zweite große Stufe der unglaublichen Bee-Gees-Geschichte. Mit Nights On Broadway und Jive Talkin‘ sind sie 1975 urplötzlich wieder ganz oben. Doch um ganz oben zu bleiben, fehlt ihnen noch ein letztes Puzzleteil.

Musik mit Glitzer

Ein besonders glitzerndes Puzzleteil, das die Bee Gees bei den meisten für alle Zeit als Disco-Typen mit Polyesteranzügen und Dance-Moves abspeichert: Ihre Beteiligung am Soundtrack von Saturday Night Fever. Das ist nicht einfach nur ein Film mit ein bisschen flotter Musik der Bee Gees. Es ist eine Naturgewalt in Plateauschuhen, die 1977 eine seismische Schockwelle durch die ganze Welt sendet. Der Film erklärt das eigentlich totgesagte Genre Disco zum neuen Gott und die Bee Gees zu seinen unsterblichen Propheten. Bis heute hat sich der Soundtrack über 54 Millionen Mal verkauft. Und die Bee Gees? Die werden von dem Erfolg so in die Stratosphäre geschossen, dass sie 1979 mit der B-Seite Rest Your Love On Me sogar einen Erfolg in der Country-Welt feiern können.

Hört hier den Soundtrack von Saturday Night Fever:

Die Quittung für diese tendenzielle Anbiederung an ein erfolgversprechendes Genre kommt natürlich prompt: Der Niedergang von Disco in den frühen Achtzigern bringt auch die Bee Gees schnell auf den Boden der Tatsachen zurück. Kennen sie aber mittlerweile. Stehaufmännchen, die sie sind, gelingt ihnen mit E.S.P. zwar noch ein veritabler Erfolg in den Achtzigern, 1997 (schon ohne den 1988 verstorbenen Andy Gibb), noch mal ein ganz ähnlicher mit Still Waters. Aber so schön ihre Songs nach 1969 auch sind, so eingängig und tanzbar, sind sie immer auch ein bisschen zu nah dran am Kalkül. Die ersten Werke der drei Gibbs, jene nachdenklichen, melancholischen, sehnsüchtigen Folk-Pop-Artefakte, werden deswegen auf ewig unerreicht bleiben. Selbst dann, wenn man ihnen ihre glitzernde Plastik-Disco-Phase längst verziehen hat.