
Die wilden Siebziger: In keinem anderen Jahrzehnt explodiert die Musik so sehr, werden so viele genreübergreifende Meilensteine erschaffen. Wir schmeißen die Zeitmaschine an und reisen ein halbes Jahrhundert in die Vergangenheit.
Mit dem neuen Jahrzehnt kommt ein neues Lebensgefühl: Der Hippietraum ist ausgeträumt, die letzten Funken über den Weiden Woodstocks verglommen. Was zunächst nach Desillusionierung und Enttäuschung riecht, trägt in Wahrheit die Saat für einen neuen libertären Geist. In den Siebzigern kommt all das zur Blüte, was in den Sechzigern zu wachsen begann. Es ist Zeit für den Siegeszug von Funk und Disco, von Reggae und Heavy Metal, von ungeahnten Studiomöglichkeiten und Konzeptalben. Bezeichnenderweise kommt das alles im größten Star der Siebziger zusammen – David Bowie.
Jahrzehnt der Meilensteine
Wie wegweisend, wie relevant und wie fundamental genial dieses Jahrzehnt aus musikalischer Sicht war, zeigt schon das Vorspulen durch die ganz großen Klassiker dieses Jahrzehnts. Pink Floyd brechen mit The Dark Side Of The Moon in den Weltraum auf, Fleetwood Mac legen mit Rumours eine Masterclass in Rock-Songwriting vor, David Bowie führt The Rise And Fall Of Ziggy Stardust And The Spiders From Mars auf, Patti Smith nimmt mit Horses den Punk vorweg, Led Zeppelin schwingen sich mit Led Zeppelin IV zu epischer Größe auf, Stevie Wonder croont sich auf Songs In The Key Of Life ins Soul-Nirwana. Und das ist nur ein winziger Ausschnitt, wohlgemerkt.
Disco und Punk im Clinch
Es sind die Siebziger, in denen mehr Genres geboren und etabliert werden als jemals wieder in der Musikgeschichte. Disco kommt, sieht und siegt. Mit den Bee Gees oder Donna Summer dominiert das Genre die Tanzflächen und steht vor allem für Freiheit und Hedonismus, für lange, durchtanzte Nächte im New Yorker Studio 54. Auf dem anderen Ende der Skala fängt das nervöse Herz des Punk an zu schlagen. Mit Geburtshelfern wie Patti Smith oder Iggy Pop kriecht Ende der Siebziger eine rohe, rebellische Jugendkultur aus England in die Welt. The Clash und die Sex Pistols auf der Insel, in den USA die Ramones: Urplötzlich hat der Mainstream-Rock einen rotzigen Gegner bekommen.
Doch auch der Rock entwickelt sich weiter. Einerseits erblüht in den Siebzigern der Prog Rock und fordert mit Pink Floyd, Genesis oder Yes die Hörgewohnheiten auf ganz neue Art heraus, andererseits wird er in die Unterwelt gezogen, wo er von Black Sabbath eingeschwärzt wird und als Heavy Metal Unheil und Teufelszeug übers Land trägt. Dann sind da natürlich auch noch Queen, die Theatralik und Pomp in den Rock bringen, KISS, die mit ihren Masken für Furore und Schrecken sorgen, oder Alice Cooper, der Hard Rock und Horror auf vollkommen neue Weise zusammenbringt.
Der Sound der Siebziger für Zuhause:
Die Dominanz von ABBA und Elton John
In der Bronx entsteht vor einem halben Jahrhundert ein Sound, der die Welt aus den Angeln heben wird. Es ist der Sound der Straße, der Sound der Abgehängten: Hip-Hop entsteht auf einer Party, schon wenige Jahre später erfasst er die ganze Welt. Ganz ähnliche Wurzeln und eine starke soziale Botschaft hat der Reggae. Mitnichten ein neues Genre, wird das Nationalerbe Jamaikas doch erst durch Bob Marley in der westlichen Welt populär gemacht.
Überall auf der Welt passiert in den Siebzigern etwas. In England ist es der New Wave, in Nigeria der Afrobeat, in ganz Europa sind es ABBA, die mit Abstand erfolgreichste Band der Siebziger. Es ist eine neue Hochzeit für Musik und für Livekonzerte, mit besserer Technik und den ersten richtigen Stadionshows. Urvater dieser Megashow ist natürlich Elton John. In den Siebzigern ist er der Größte, unerreicht weit oben. 1975 spielt er zwei ausverkaufte Shows im Dodgers Stadium in Los Angeles, so was hat vor ihm kein Solokünstler gemacht.
Das Studio als Instrument
Um die Siebziger und ihre beispiellose Rolle für die Musikgeschichte zu verstehen, muss man aber auch hinter die Kulissen blicken. All die Innovation wäre ohne die entsprechende Technik nicht möglich gewesen. Ganz vorn dabei: der Synthesizer. Er revolutioniert die Musik so komplett wie zuletzt die E-Gitarre, ist bald aus kaum einer Rock-Band mehr wegzudenken und ermöglicht völlig neuartigen Bands wie Kraftwerk visionäre Ergebnisse. Zugleich wird das Studio als Instrument immer wichtiger. Durch Vorreiter wie die Beatles fuchsen sich Bands oder prägende Produzenten wie Phil Spector und Brian Eno so tief in den Klang wie nie zuvor, verkriechen sich monatelang im Studio und erschaffen vollkommen ungeahnte Klangerlebnisse.
Jahre der Diversität
Das Vermächtnis der Musikszene der 1970er Jahre ist noch aus einer anderen Warte wichtig: Waren die Sechziger in der westlichen Musikwelt bis auf wenige Ausnahmen fest in weißer Hand, finden in den Siebzigern mehr und mehr People of Colour den Weg ins Rampenlicht und an die Spitze. Durch Soul, Funk, Disco und Hip-Hop wird die Popkultur deutlich diverser, vielfältiger, offener. Marvin Gaye, Stevie Wonder, Donna Summer, aber auch Thin Lizzy, Earth, Wind & Fire oder Grace Jones fordern den Status quo heraus und nehmen ihren rechtmäßigen Platz in der Popkultur ein.
Gegen Ende der Siebziger beginnen die Vinyl-Verkaufszahlen zu sinken, die goldene Album-Ära wird von der MTV-Ära und ihrem Fokus auf Singles abgelöst. Doch es war dieses Jahrzehnt, in dem die Genres zu dem wurden, was sie bis heute sind.