Auch Experten liegen manchmal mächtig daneben. In dieser Reihe stellen wir vernichtende Plattenkritiken von großen Alben der Musikgeschichte vor, fatale Fehlurteile, die aus heutiger Sicht mindestens merkwürdig wirken. Oder war es doch durchaus berechtigte Kritik, die der allgemeinen Meinung entgegensteht? Zeit für eine erneute Analyse.
Dieses Mal geht es um ein Album, das den Beginn einer neuen Ära einläutete: Kraftwerks viertes Album Autobahn markiert den Übergang der Düsseldorfer von einer Krautrock-Gruppe zur elektronischen Band und gilt landläufig als Meilenstein. Alleine mit den über 20-minütigen Sequenzen des Titelsongs beeinflussten Kraftwerk die Entwicklung der modernen elektronischen Musik. Und das im Jahr 1974, als die Herrschaft der Rockmusik noch ungebrochen war.
Hör hier in Autobahn rein:
Für das ganze Album klick' auf "listen".
Kaum verwunderlich, dass dieser neue, noch dazu deutsche Sound im amerikanischen Rolling Stone auf Gegenwehr stieß. In der damaligen Kritik strafte John Mendelsohn die Roboter-to-be mit überheblichem Desinteresse. Den revolutionären Kern dieser Platte scheint er übersehen zu haben – oder war es eine pure Abwehrhaltung dem „Fremden“ und Neuen gegenüber?
„Dis ist nicht so gut“ schreibt der Kritiker im englischen Originaltext und mockiert sich gleich mal ganz allgemein über die Deutschen. Kraftwerk landeten mit Autobahn auf Platz 5 in den US-Charts – das war zu dieser Zeit ein unfassbares Kunststück, und auch Kraftwerk konnten das mit späteren Alben nicht mal annähernd wiederholen. Es muss sich für viele Amerikaner wie eine Invasion angefühlt haben – hier kommen die Deutschen mit ihrer Maschinenmusik.
Der Ralf, der Florian und die anderen bestätigten ja auch ein paar deutsche Klischees, da waren solche Witze vorprogrammiert. Walter alias Wendy Carlos in allen Ehren, aber ihre Synthesizer-Experimente waren doch nur schwer mit dem Elektropop von Autobahn zu vergleichen. In Sachen Elektronik wusste man damals beim Rolling Stone eben noch nicht gut zu differenzieren. Denn das war es dann auch schon mit der musikalischen Analyse im eigentlichen Sinn:
Okay, John. Was wird das jetzt? Schon klar: die Deutschen und ihre Autos, die perfekt geölte Maschine, technisch, kühl und befremdlich. Die Rezension besteht nun nur noch aus solchen Absätzen, in denen der Autor technische Begriffe und Funktionalitäten eines Autos beschreibt. Nun ja: Das ist eine Möglichkeit, auf die Musik von Kraftwerk zu reagieren, im Prinzip stimmt die Analogie ja.
Trotzdem: Diesem Album wird das nicht gerecht. Da sind die epischen, repetitiv-melodiösen Strukturen des Titelstücks, aber auch die experimentellen Synthesizer-Klänge der beiden Teile von „Komentenmelodie“, mit denen Kraftwerk die nicht-akamdemische elektronische Musik ein gehöriges Stück nach vorne gebracht haben und die Entwicklung der nächsten Jahrzehnte entscheidend beeinflusst haben. Vor allem: Die Musik ist nicht bloß technisch und klinisch, sondern macht auch emotionale Räume auf. Gibt’s nicht mehr dazu zu sagen?
Die emotionale Komponente scheint beim Kritiker nicht anzukommen – er kann einfach nichts damit anfangen, und es langweilt ihn scheinbar. Aggressivität war nie die Sache von Kraftwerk. Ihr Sound war entweder wissenschaftlich seriös oder fast schon kitschiger Pop. Man spürt in diesem Text ein Fremdeln, das einerseits an der elektronischen Musik lag, andererseits an ihren Urhebern – in Kombination natürlich fatal.
Selbst der große Lester Bangs schrieb ein Jahr später einen Text über Kraftwerk mit der Überschrift: „Kraftwerk: The Final Solution to the Music Problem?“ In solchen Nazi-Bezüge steckte vielleicht ein kleiner Funke Wahrheit, aber es hinderte die Leute damals offenbar auch, diese Musik objektiv zu beurteilen. Dieser ambivalente Verriss bestätigt letztendlich vor allem wieder eines: Kraftwerk waren ihrer Zeit weit voraus.
Das könnte dir auch gefallen:
Robert Moog: Der Pionier des Synthesizers