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Die musikalische DNA von Udo Lindenberg

Zigarre in der Hand, Sonnenbrille auf der Nase, Hut auf den schulterlangen Haaren, die Socken: Es braucht vielleicht nicht viel, um wie Udo Lindenberg auszusehen. Einiges aber, um wie er zu klingen oder gar wie er zu texten. Und es ist unmöglich, so wie er zu sein. Denn Udo ist ein Unikat! Als „größten deutschen Nachkriegslyriker“ bezeichnete der Die-Hard-Fan Benjamin von Stuckrad-Barre sein „Udol“. Das mag die Literaturwissenschaft vielleicht anders sehen, sein Einfluss auf deutschsprachige Rock- und Pop-Musik und die deutsche Sprache überhaupt sind jedoch kaum zu leugnen. Hätte es zum Beispiel ein Marius Müller-Westernhagen an die Spitze der Charts geschafft ohne einen Lindenberg, der nach all dem belanglosen Schlagergesäusel der sechziger Jahre für Erfrischung auf allen Ebenen sorgte? Wohl kaum. Wäre deutschsprachige Pop- und Rock-Musik heute erheblich langweiliger ohne Lindenbergs Einfluss? Wir sind uns sicher.


Hört euch hier Udo Lindenbergs musikalische DNA als Playlist an und lest weiter:


Der selbsternannte „Dauernuschler aus Prinzip“ hinterließ nicht nur Spuren, er eiferte auch anderen nach. Seine eigene Inspiration bezog er aus dem Jazz und Rock oder Pop, aber auch aus der Literatur. Darin fand er Halt, daraus machte er sein eigenes Ding. „Ich dachte auch, es muss Englisch sein, um ein Weltstar zu werden“, erinnerte er sich in einem Interview an seine Anfangstage. „Ich konnte aber nicht genau genug singen, was ich fühle. Ich habe an Deutsch geglaubt, getrickst und gemacht.“ Er hat’s geschafft! So viel also steht fest: Ein Blick auf Udo Lindenbergs musikalische DNA wird um große Texte nicht herumkommen. Ob nun gesungene oder in Bücher gebundene. Die Musik kommt aber nicht zu kurz.


1. Miles Davis - Blue In Green

Warum aber ist Lindenberg ausgerechnet Musiker geworden – und nicht etwa Literat? Nun, alles fing mit einem Stewart an, der dem jungen Udo – frisch mit 15 Jahren von Zuhause ausgebüxt – ein paar Ansichtskarten zeigte. Die von Schanghai und dem Jazz-Trompeter Miles Davis interessierten Lindenberg besonders. „Da dachte ich: Ich werde Musiker, aber vorher werde ich Steward, ein sicherer Beruf!“, erinnerte er sich.

Es blieb für ihn beim Hoteljob, immerhin aber bildete der Grünling seine vorher entdeckte Trommelleidenschaft weiter aus und versank sich im Jazz von Charlie Parker und eben jenem Miles Davis. So weit geht seine Leidenschaft für King of Cool, dass er im Rahmen einer Ausstellung im Schloss Neuhardenberg ein ganz besonderes Geschenk zeigte, das Davis ihm gemacht hatte: sein Schlagzeug. À propos Ausstellung: Beide vereinte stets auch die Leidenschaft für die bildende Kunst.


2. Klaus Doldinger - Jadoo

Wie begabt der junge Lindenberg hinter dem Kit war, zeigte sich bereits 1960, als er im Alter von 14 Jahren den ersten Preis als Schlagzeuger beim Norwestdeutschen Jazz-Jamboree gewann. Nur zehn Jahre später saß er bei einem der größten deutschen Jazz-Musiker hinter dem Kit, dem Saxofonisten Klaus Doldinger. Ratet mal, wer in der von Doldinger komponierten Titelmelodie zur Serie Tatort hinter der Schießbude sitzt! Genau, Lindenberg.

Der widmete sich daneben auch anderen Bands und spielte etwa bei Emergency und auf den ersten beiden Platten der Band Niagara mit. Der große Erfolg sollte ihn zwar als Sänger ereilen, ohne Doldinger als Mentor hätte es Lindenberg jedoch wohl kaum so weit gebracht.


3. Ton Steine Scherben - Halt dich an deiner Liebe fest

Am Schlagzeug konnte es unser Udol also. Aber am Mikrofon? 1971 debütierte er zuerst als Sänger und schien zuerst zu scheitern. Ob es an den englischen Texten lag? Vielleicht, aber auch mit LP Nummer zwei, Daumen im Wind aus dem Folgejahr, räumte er nicht unbedingt Trophäen ob. Obwohl zumindest der Hoch im Norden gut ankam. Nämlich hoch im Norden.

Erst mit dem Album Andrea Doria sollte Lindenberg der Durchbruch gelingen. Wo aber hatte er das Texterhandwerk gelernt, woher kamen die Ohrwürmer? Wichtig war unter anderem die Band Ton Steine Scherben um Frontmann Rio Reiser, der gezeigt hatte, dass sich ebenso kraftvoll wie verständlich singen lässt. „Rio war ein Flammenwerfer, ein Anzünder für uns alle“, sagte Lindenberg über den Kollegen. Seit Reisers frühem Tod im Jahr 1996 gehört Lindenberg zu denen, die sein Feuer um die Welt tragen.


4. Steppenwolf - Born To Be Wild

Ton Steine Scherben waren eine der ersten deutschen Rock-Bands, die dieses Prädikat wirklich verdient haben. Sie ließen sich nichts sagen und machten das kaputt, was sie kaputt machte. Klar, dass sich der Panikrocker auch musikalisch von ihnen inspirieren ließ, denn nach dem Jazz wurde Rock-Musik zu seiner zweiten großen Leidenschaft.

Einige der größten Rock-Songs der Musikgeschichte vertonte er selbst auf seine unnachahmliche Art, darunter auch ein Stück, dessen Titel programmatisch für sein Leben steht: Born To Be Wild von der Gruppe Steppenwolf. Auch hier gibt es mehr als eine Verbindungslinie: Die Band benannte sich nach dem Roman von Hermann Hesse, einem von Udos Lieblingsschriftstellern. 2016 wurde er sogar mit der Hermann-Hesse-Medaille von dessen Heimatstadt Calw gewürdigt. Was für eine Auszeichnung!


5. Liebeslied (Siehst du den Mond über Soho) aus der “Dreigroschenoper”

Wichtiger als Hermann Hesse war für Lindenberg wohl jedoch Bertolt Brecht. Der Dramatiker revolutionierte Anfang des 20. Jahrhunderts mit sprühendem Humor das Geschehen auf den Theaterbühnen und zeigte dabei stets Haltung. Brecht war nicht nur politisch aktiv, er hatte auch eine zarte Seite.

Die zeigte sich in jedoch eher derben Zeilen, die Lindenberg in Brecht’s Liebeslied verarbeitete. Inspiration dafür kam unter anderem aus Brechts legendärer Dreigroschenoper, seinem wohl bekanntestem Stück mit vielen denkwürdigen Musikeinlagen. Unter anderem auf seinem Album Phönix widmete sich Lindenberg weiteren Texten des Dichters und sang ihm auch 1998 zum 100. Geburtstag ein Ständchen, das der große Bert hoffentlich im Jenseits gehört hat.


6. Marlene Dietrich - Illusions

Trommeln konnte er, das Texten hat er mit Rio Reiser und Hesse gelernt. Von Brecht bekam Lindenberg allerdings noch mehr auf den Weg. Dessen skurriler Humor und nicht zuletzt sein Sinn fürs Theatralische dürften für die „Nachtigall“ ebenso von Bedeutung gewesen sein. Lindenbergs unvergleichliche Bühnenpersona findet ein anderes Vorbild in der großen Marlene Dietrich. „Man ist ja auch Projektionsfläche, bisschen fantasieren, mutmaßen, sexy-hexy, das ist wichtig. Habe ich von der Dietrich gelernt“, sagte Lindenberg in einem Interview.

1988 widmete er seiner Mutter das nach ihr benannte Album Hermine, auf dem auch ein Stück der Dietrich in Lindenberg-Manier zu hören war. Bei den Aufnahmen zu Illusions soll er in Tränen ausgebrochen sein. Der Regisseur Horst Königstein erinnerte sich an die Szene: „Das war das erste Mal, dass er sich einen solchen Gefühlsausbruch gestattet hat.“ Nur verständlich vor diesem Hintergrund – und dazu noch bei einem solchen Song!


7. Rammstein - Engel

Lindenbergs Leidenschaft für deutsche Liedkunst erstreckt sich jedoch nicht allein auf alte Klassiker. Vielmehr ist er auch Neuem aufgeschlossen. Hättet ihr vermutet, dass eine Type wie Lindenberg auf harten Metal à la Rammstein steht? Stimmt aber! Tatsächlich ist der Panikrocker sogar dicke mit Rammstein-Sänger Till Lindemann befreundet. Der selbst hat nur die wärmsten Worte für das Udol übrig. „Er sollte keinen Hut, sondern eine Krone tragen!“, so der Lindemann über den Lindenberg.

Udo wiederum dankt dem Weltgeschehen dafür, ihm Rammstein geschenkt zu haben. „Allein schon deswegen musste die Mauer weg. Um das Spektrum zu erweitern. Mit geilen Musikern“, polterte er in einem Interview mit dem deutschen Rolling Stone. Wer würde ihm widersprechen wollen?


8. Ray Charles - Chattanooga Choo Choo

Wie wütend Lindenberg auf die DDR-Obersten war, wissen wir aus einem seiner größten Hits. In Sonderzug nach Pankow wetterte er unvergleichlich charmant gegen Erich Honecker! Warum? 1979 hatte Lindenberg in einer Radiosendung gesagt, dass er gerne ein Konzert für seine Fans in Ostdeutschland geben würde. Das kam dem Kulturverantwortlichen der SED, Kurt Hager, zu Ohren. Der schrieb Lindenberg prompt eine ebenso trockene wie kurze Notiz: „Auftritt in der DDR kommt nicht in Frage“.

Wir müssen Hager wohl dankbar dafür sein, denn sonst hätte uns Udo nicht Sonderzug nach Pankow geschenkt! Der Song basiert bekanntlich auf einer Komposition Harry Warrens, die unter anderem von Glenn Miller bekannt gemacht wurde. Ebenso hörenswert ist allerdings die Version des großartigen Ray Charles, der mit seiner Musik an der Schnittstelle von Jazz und Rock einen nicht unerheblichen Anteil an der Stilbildung Lindenbergs gehabt hat.


9. The Beatles - Penny Lane

Wie dieses Beispiel allein zeigt, interessierte sich die Nachtigall nicht ausschließlich für Jazz oder deutschsprachige Musik. Natürlich nämlich widmete er sich wieder und wieder auch englischsprachigem Pop.

Auf seiner Cover-Version vom Song Penny Lane unter dem Titel Reeperbahn behauptet er sogar, einer der ersten Beatles-Fans gewesen zu sein! Ob wir’s glauben dürfen? Wohnt er doch eigentlich erst seit 1968 hauptsächlich in der Hansestadt… So oder so: Seine Penny Lane-Interpretation beschwört eine wilde und umtriebige Zeit herauf. Wer hätte die nicht gern erlebt? Da lässt sich auch mal ruhig die Wahrheit etwas biegen, finden wir.


10. Clueso - Achterbahn

Eine Wahrheit, an der allerdings definitiv nicht zu rütteln ist: Nach ungefähr einem halben Jahrhundert im Business kann Udo Lindenberg auf ganze Generationen zurückblicken, die er mit seinem Schaffen beeinflusst hat. Er sucht dabei immer noch die Nähe seiner Nachkommenschaft.

Zuletzt etwa freundete er sich mit dem Singer/Songwriter und Rapper Clueso an, dessen wunderbar verschnuschelter Flow nicht von ungefähr an das Udol erinnert. „Immer noch so kindlich zu sein und so lustig – von Udo können sich viele eine Scheibe abschneiden“, schwärmte der Rapper vom Kollegen. Und wenn sie nicht wie im Jahr 2013 gemeinsam im Studio alte Lindenberg-Klassiker wie Cello ein frisches Gewand überwerfen, dann lassen sie alle Hüllen fallen und gehen gern zusammen schwimmen, berichtete der Erfurter. Eine ungewöhnliche Paarung. Aber dafür lieben wir Udo doch: Dass er nicht wie alle anderen ist.


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