Zeitsprung: Am 29.8.1992 landen Dream Theater mit „Pull Me Under“ einen unerwarteten Hit.
popkultur28.08.20
Anekdoten, Jubiläen und wilde Geschichten: Was an diesem Tag in der Welt der Musik passiert ist, lest ihr täglich in unserem Zeitsprung. Heute: 29.8.1992.
von Christof Leim
Mit einer achteinhalb Minuten langen Frickel-Metal-Nummer kann niemand berühmt werden. Sollte man meinen. Im Sommer 1992 schaffen Dream Theater dieses Kunststück aber trotzdem – mit dem Song Pull Me Under, der am 29. August 1992 als Single erscheint. Mit ihrem unerwarteten Hit gehen die Amerikaner sympathisch selbstironisch um.
Hier könnt ihr euch Images & Words anhören:
Natürlich gelten Dream Theater quasi immer schon als die Könige des Prog Metal, jenes Genres, in dem Headbanger-Qualitäten auf beachtliche Virtuosität treffen. Und bei letzterem macht den fünf Musikern niemand, wirklich niemand etwas vor. Das Debüt When Dream And Day Unite von 1989 sorgt bereits für Applaus in einer Ära, als es weniger auf instrumentale Finesse und ein vielseitiges Vokabular ankommt, sondern – Grunge, Baby! – mehr auf direkte emotionale Ansprache des Publikums. Das zweite Album Images & Words von 1992 mit neuem Sänger James LaBrie gilt heute als Meilenstein und katapultiert das Quintett an die Spitze.
Soli sind doch 1992 verboten!
Nur bedeutet das in diesem Metier nicht, ständig im Radio, im allmächtigen Musikfernsehen und in Pflichtsendungen wie Headbanger’s Ball gespielt zu werden. Doch mit Pull Me Under läuft das ein bisschen anders: Dass Rocksender und vor allem MTV auf den Song so abfahren, hätte damals niemand erwartet, eben weil in ein knappes Jahr vorher Nirvana mit Nevermind die Welt ziemlich auf den Kopf gestellt hatten. Doch mit der Eröffnungsnummer ihrer neuen Platte gelingt Dream Theater „ein Glückstreffer“, wie Drummer Mike Portnoy später zu Protokoll gibt.
Prog-Metal-Helden Anfang der Neunziger: Dream Theater, Mark II (Foto: Brad Hitz/Promo)Ursprünglich hieß die Nummer mal Oliver’s Twist, der Text von Keyboarder Kevin Moore lehnt sich stark an Shakespeares Hamlet an, und musikalisch geht’s ziemlich ab: Das Stück baut sich geschickt auf von einem markanten Gitarrenintro über wilde Riffs und wieselflinke Soli bis zu einem Ohrwurm-Chorus und langen Instrumentalparts. Dream Theater schaffen dabei erneut das, was viele Bands ähnlichen Stils oft versäumen: Sie setzen ihr musikalisches Verständnis für den Song ein, nicht als Selbstzweck – quasi wie mehr Farben und höhere Auflösung in einem Bild, nicht einfach eine willkürliche breite Palette zum Angeben.
Wie die Beatles
Dass Pull Me Under nach 8:15 Minuten dann abrupt endet, hat pragmatische Gründe: Die Komposition steigert sich und baut Spannung auf, aber laut Portnoy wussten die Herren nicht so genau, wo das hinlaufen soll. Also orientieren sie sich an She’s So Heavy von den Beatles – und ziehen quasi mitten im Takt den Stecker. Hat was.
Für die Singleveröffentlichung 1992 und für MTV wird Pull Me Under um fast vier Minuten (!) gekürzt. Verständlich, aber für Musikverrückte eigentlich eine Frechheit. Das Video wechselt zwischen der Band in Aktion und einer obskuren Geschichte, die den Akteuren angeblich so gar nicht gefällt, weil sie nichts mit dem Lied zu tun hat.
Dass (die sonst ungemein erfolgreichen) Dream Theater damit ihren einzigen großen Hit im klassischen Sinne landen, nehmen sie Jahre später im Titel einer Best-Of-Compilation auf die Schippe. Die heißt nämlich – mit sympathischem Singular – Greatest Hit… And 21 Other Pretty Cool Songs.