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Zeitsprung: Am 17.10.1989 fühlen sich Kiss „Hot In The Shade“.

Anekdoten, Jubiläen und wilde Geschichten: Was an diesem Tag in der Welt der Musik passiert ist, lest ihr täglich in unserem Zeitsprung. Heute: 17.10.1989.

von Christof Leim

Gitarren wieder nach vorne und weniger bunte Klamotten: Mit Hot In The Shade wollen Kiss zurück zu ihren Wurzeln. Raus kommt ein Haufen guter Songs samt einer Hitsingle, an der ein Schmusesänger mitmischt. Zu den unverzichtbaren Klassikern der Bandgeschichte gehört die Platte trotzdem nicht. Ab 17. Oktober 1989 steht Hot In The Shade in den Läden.


Hier gibt es Hot In The Shade zu hören:



Als sich die Achtziger ihrem Ende zuneigen, müssen Kiss sich gut überlegen, wohin die Reise gehen soll. Seit den güldenen Frühzeiten mit Make-up und Millionenverkäufen mussten die ehemaligen Schminkemonster eine ziemliche Achterbahnfahrt erleben (mehr dazu hier). Zuletzt hatten sie mit Crazy Nights (1987) ein keyboardlastiges Pop-Metal-Album produziert, das leider nicht die MTV-Welt im Sturm nehmen konnte wie geplant. Deshalb wollen sich Paul Stanley, Gene Simmons, Bruce Kulick und Eric Carr mit ihrem nächsten und fünfzehnten Studiowerk wieder auf das Wesentliche besinnen: mehr Gitarren, mehr Rock’n’Roll, weniger Bombast und Brimborium, und auch keine Farbkombinationen mehr, die Netzhäute sprengen können.


Riskante Gegend

Im Sommer 1989 entsteht Hot In The Shade in einem Etablissement namens The Fortress in Hollywood. Das ist kein riesiger Aufnahmetempel, sondern ein eher kleines Studio in einer „abgefahrenen Gegend, wo sogar das Parken riskant werden kann“ (Kulick). Das passt den Herren aber gut in den Kram: Keine Ablenkung, kein Schnickschnack, sondern ein Platz zum Arbeiten. Für einen reduzierten, möglichst auf Gitarre, Bass, Schlagzeug beschränkten Klang entscheiden die Produzenten Stanley und Simmons sogar, viele ihrer naturgemäß spontan klingenden Demos als Grundlage der Songs zu verwenden und diese lediglich mit Overdubs aufzupeppen. Heraus kommt tatsächlich ein viel weniger glatt gebügeltes Album als Crazy Nights, rumpeligen Garagensound muss man (glücklicherweise) nicht befürchten. Es ist eben alles relativ.


Kiss fürs Wohnzimmer:

Selbst wenn man es nicht wirklich hört, finden sich durch die Verwendung vorhandener Aufnahmen eine ganze Reihe an Musikern auf der Platte: Kevin Valentine etwa trommelte schon in ihrer Entstehungsphase bei zwei Stücken (und später inkognito auf dem 1998er-Reunionalbum Psycho Circus), und auch der heutige Schlagwerker Eric Singer soll insbesondere an Demos von Paul mitgewirkt haben. Für andere Nummern nutzt Eric Carr E-Drums, bei manchen Stücke erklingt sogar ein Drumcomputer, wie Kulick 25 Jahre später berichtet.


Viele Köche kochen mit

Für die Lieder selbst arbeiten die Hauptkomponisten Stanley und Simmons mit einer ganzen Reihe an Songwriter-Kollegen und -Kolleginnen zusammen. Die beiden Chefs bringen jeweils sieben ihrer Ideen auf die Platte, ein Song stammt hauptsächlich von Eric Carr, Bruce Kulick trägt zu zwei Nummern bei. Mit 15 Tracks wird Hot In The Shade damit zur längsten Scheibe in der Kiss-Diskografie.

Bei fünf Titeln taucht Vini Poncia wieder auf, der mit Dynasty (1979) und Unmasked (1980) die poppigste Kiss-Phase als Produzent betreut hatte, außerdem Adam Mitchell, der zu Zeiten von Creatures Of The Night (1982) dabei war. Daneben schreibt Judas-Priest-Kollaborateur Bob Halligan Jr. mit,  an zwei Liedern ist Tommy Thayer beteiligt, der 2002 selber Leadgitarrist und neuer „Spaceman“ werden sollte.


Alle mit allen

Als erste Single wird zeitgleich mit der Platte Hide Your Heart ausgekoppelt, geschrieben von Paul Stanley mit der hochdekorierten Songwriterin Holly Knight (Tina Turner, Aerosmith) und Platinlieferant Desmond Child (Bon Jovi, Alice Cooper). Dass damals tatsächlich alle querbeet miteinander rumkomponieren und Songs gerne weiterreichen, treibt bei Hide Your Heart lustige Blüten: Die Nummer hatte Paule ursprünglich für Crazy Nights angedacht, dann aber nicht verwendet. Deshalb veröffentlicht zuerst Bonnie Tyler den Song auf einer gleichnamigen 1988er-Platte, dann packen im September 1989 die Southern-Rocker Molly Hatchet das Stück auf ihr Album, anschließend nimmt niemand Geringeres als Ex-Kiss-Gitarrist Ace Frehley eine eigene Version für Trouble Walkin’ auf, die fast zeitgleich mit der von Kiss erscheint. Später legt die Sängerin Robin Beck nach. An diesem Überangebot  könnte es gelegen haben, dass Hide Your Heart nicht der ganze dicke Durchmarsch wird.





Die zweite Auskopplung beschert der Band dann jedoch den größten Hit seit Beth und I Was Made For Lovin’ You: Mit der Ära-typischen Powerballade Forever schaffen es Kiss auf Platz acht der Billboard-Charts und in die Heavy Rotation der entsprechenden TV- und Radiokanäle. Das Ding ist aber auch schön: Akustikgitarre im Intro, Herzschmerz-Lyrics, ein großer Chorus mit Feuerzeugpflicht und zur Krönung ein wirklich brillantes Gitarrensolo von Bruce Kulick. Geschrieben hat Paul Stanley diesen Schmachtfetzen mit Schmusesänger Michael Bolton, einem alten Kumpel von Bruce aus ihrer gemeinsamen Zeit in der Band Blackjack. Als Bolton mitbekommt, dass das Stück sich zum Hit entwickelt, lässt er sich die Lyrics faxen (so ging das damals) und spielt es fortan selbst bei seinen Shows.


Schminke: Ja oder nein?

Beim Uptempo-Rocker Rise To It als dritter Single merken Kiss-Nerds angesichts des Videos auf. Hier sieht man Paul und Gene, wie sie eine Backstage-Szene der Siebziger nachstellen: Gerade legen sie ihre Kriegsbemalung an und unterhalten sich darüber, ob es klappen kann, jemals das Make-up abzulegen. Was dann ja 1983 auch passiert. Einig werden sich die Herren nicht so recht. (Den Experten fällt zudem auf, dass Simmons ein Outfit der Unmasked-Ära trägt, Paul aber von Love Gun. Geschenkt.)




Was gibt es sonst? Bei Read My Body versucht sich Paul an sowas wie Rap, der Chorus klingt hart nach Here I Go Again und I Love Rock’n’Roll. In Cadillac Dreams singt Gene über eins seiner Lieblingsthemen (Geld), und bei Boomerang ballert sogar eine Doublebass zu jeder Menge Flitzefingergitarre. Schön auch: Silver Spoon endet mit einem herrlichen Gospelchor dreier Sängerinnen, der „Sisters Of No Mercy“.


Eric darf singen

Mit Little Caesar gibt es eine Premiere: Zum ersten Mal darf Eric Carr auf einer Kiss-Platte den Leadgesang eines Songs, zudem aus seiner Feder, übernehmen (sieht man von einer Neuaufnahme des Klassikers Beth für die Best-of-Kompilation Smashes, Trashes & Hits ab). Ein einziges Mal wird die Nummer live gespielt (am 26. April 1990 in Reseda, Kalifornien), noch vier weitere Stücke kommen im Laufe der Jahre zu Konzertehren, die meisten nicht lange. Filmaufnahmen von der Tour erscheinen später im Rahmen der Kissology-Reihe. Leider hören wir Eric auf Hot In The Shade zum letzten Mal in voller Albumlänge: Der Schlagzeuger verstirbt am 24. November 1991 (am gleichen Tag wie Freddie Mercury) mit nur 41 Jahren an Krebs.

Ihrem Ziel, die „Gitarren wieder nach vorne zu bringen“, wie Gene damals etwa im Metal Hammer erklärte, kommen Kiss mit der Platte tatsächlich halbwegs näher. In den USA reicht das für Platz 29, in Deutschland für Rang 46. Im Kontext der üppigen Kiss-Diskografie geht Hot In The Shade trotz guter Songs allerdings unter.


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