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Foto: Brian Ziff

Livingston im Interview: „Ich versuche, noch ein bisschen an den Weihnachtsmann zu glauben“

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Livingston ist vom jungen Bedroom-Producer zu einem Künstler geworden, dessen Musik groß und cineastisch wirkt. Im Interview erklärte er uns, dass er wiederum von kleinen Details des Alltags inspiriert wird.

„Ich habe dieses Jahr mit einer Therapie angefangen und ich bin froh darüber. Bis dahin war Musik mein einziger Weg, die Komplexität meiner Gefühle auszudrücken. Mit Musik kann ich 100 Dinge nehmen, die ich sagen will, und sie auf eine Sache reduzieren. Das kann ich mit Worten nicht.“ Livingston ist die Geschichte eines Jungen, der Musik als sein Ventil fand. Der seine isolierte Jugend nutzte, um Produktion zu erlernen und Songs zu schreiben – zunächst nur für sich selbst, bis plötzlich mit 18 Jahren schon der große Erfolg an der Tür klopfte.

Drake Jon Livingston Jr. ist mittlerweile 22, vor vier Jahren brach er aber direkt mit seiner Debütsingle Fairytale durch. Seitdem folgten EPs und letztes Jahr sein Debütalbum A Hometown Odyssey. Dieser Titel klingt groß und theatralisch, Livingstons Sound ist eben larger-than-life – dabei ist der Großteil seiner Musik in seinem Schlafzimmer entstanden. Er ist gleichermaßen von Pop-Musik wie von Film-Scores über Pixar bis Star Wars inspiriert. Vergleiche mit Acts wie Jon Bellion, Twenty One Pilots oder Imagine Dragons sind daher angemessen.

Großes im Kleinen

Um so etwas Großes zu erschaffen, müsse er bei Songs ganz klein anfangen, erklärt Livingston: „Es muss erst das Konzept stehen. Das ist manchmal ein Wort, ein Satz oder eine Melodie, die damit zusammenhängt. Es muss etwas wie eine These dafür geben, was ein Song sein will, bevor ich reingehe. Manche Songwriter:innen schreiben einfach ein paar Lyrics und bauen den Song davon ausgehend weiter. Das kann ich nicht. Ich folge meinem Herzen: Was will ich aus mir herauskriegen? Es gibt eine Million Dinge, die man sagen könnte, daher muss ich das eingrenzen. Sobald ich ein starkes Konzept gefunden habe, konzentriere ich mich auf dieses kleine Detail, aus dem eine ganze Welt wird. Darin kann ich den Sound, die Produktion und den Text erarbeiten, um die Idee zu untermauern.“

Diese Themen müssen nicht riesig und überwältigend sein. Oft werde er von kleinen, alltäglichen Sachen inspiriert, denn: „Ich habe kein spannendes Leben. Ich wache auf, laufe herum, versuche, gute Konversationen zu führen, gute Bücher zu lesen, in Form zu bleiben – normale Dinge. Ich will aber diese Dinge näher beleuchten und nicht passiv leben. Sondern wirklich das Leben erleben und mit jeder Information, Konversation, Erfahrung etwas lernen. Ich versuche, Magie in der Welt zu sehen und noch ein bisschen an den Weihnachtsmann zu glauben. Solang ich nicht abgestumpft bin, kann ich Schönheit in normalen Dingen finden.“

Ein Beispiel ist Last Man Standing, eine der Singles auf A Hometown Odyssey. Livingston erklärt, darin gehe es darum, eine Person dafür zu lieben, wer sie ist. „Nicht, was sie dir gibt oder wieviel Geld sie hat, sondern wer sie in dieser Welt ist.“ Das verpackt er in einer ruhigen Klavierballade, die simpel und traditionell klingt, aber textlich Individualität zelebriert.

Die Einzigartigkeit jedes Individuums manifestiere sich manchmal in kleinen Dingen: „Wenn man mit Freund:innen Gespräche führt, realisiert man manchmal nicht, wie einzigartig sich Leute ausdrücken. Da gibt es kleine Dinge, wie Leute etwas eigenartig oder vielleicht sogar falsch erklären, und ihre Emotionen ausdrücken. Es ist so augenöffnend, wenn man geliebten Menschen genau zuhört, wie sie über ihre Träume oder Weltanschauungen reden. Wir lesen ja nicht von einem Skript ab, niemand bringt uns bei, wie wir denken sollen.“

Eine unendliche Geschichte

A Hometown Odyssey ist für Livingston ein persönliches Album, das seine eigene Geschichte erzählt. Schon die Vorgänger-EP wirkte autobiographisch und filmisch, wie der Titel An Unlikely Origin Story suggeriert. A Hometown Odyssey setzte dies ähnlich cineastisch fort, sogar mit einer Erzählerstimme – niemand Geringeres als der Schauspieler J. K. Simmons. Simmons lernte er durch eine befreundete Musikerin, Em Beihold, kennen. Diese hatte nämlich früher mit Simmons‘ Tochter in einer Punk-Band gespielt. Seine Erzählstimme macht das Album noch immersiver und kohärenter, als würde man Livingstons Geschichte als Hörspiel lauschen.

Und die Geschichte endet hier nicht – denn ab dem 7. März gibt es eine digitale Extended-Version des Albums mit dem Zusatztitel The Story Continues. Aber inwiefern setzen die neuen Songs die Story fort? „Die Geschichte geht weiter, von einem Teenager, der ein paar Songs auf seinem Laptop in seinem Schlafzimmer machte und irgendwie die Chance bekam, sie mit der Welt zu teilen und auf einmal vor 80.000 Leuten zu spielen. Dann wurde der Junge inspiriert, zurück ins Schlafzimmer zu gehen und neue Songs zu schreiben, die sich wie verstärkte, buntere Versionen der damaligen Emotionen anfühlen. Ich wollte also noch nicht komplett weitergehen.“

Livingston im Circle Store:

Denn der Prozess hinter A Hometown Odyssey sei in einer besonderen Phase seines Lebens passiert: „Als ich mein erstes Album machte und noch gar nicht wusste, was ich da genau tat, hatte das etwas Jugendliches, Unschuldiges. Das wollte ich nun genauer beleuchten und als ein Gefühl verstehen, das ich nie wieder spüren werde. Ich will mich weiterentwickeln und Größeres erschaffen. Aber bevor ich ins nächste Kapitel übergehe, will ich mich darauf konzentrieren, wie schön es ist, etwas zu erschaffen, bevor man weiß, was es wird.“

Alle anders abholen

Livingston ist sehr dankbar, dass er es so schnell so weit schaffen konnte. Insbesondere der Tour-Lifestyle führe ihm das vor Augen: „Es ist ein unglaubliches Gefühl, in eine Stadt zu kommen, in der ich noch nie war. Zum einen kann ich die Stadt, das Essen und die Kultur erleben, aber vor allem um 21 Uhr auf die Bühne treten und sehen, dass da 1000 Leute stehen. Die haben die Songs, die ich vor acht Jahren in meinem Schlafzimmer geschrieben habe, nicht nur ein- oder zweimal gehört, sondern wirklich kennengelernt und gefühlt. Das überrascht mich jeden Abend.“

Wenn er einen Song wählen müsste, der live die stärkste Wirkung hat, würde er sich für Shadow entscheiden. „Er holt verschiedene Leute aus verschiedenen Gründen ab. Für manche Leute bedeutet der Song textlich viel, weil es um Angst und düstere Gedanken geht. Aber letztens hat mich jemand darauf aufmerksam gemacht, dass auch viele Kinder für diesen Song herkommen. Die haben nicht genug erlebt, um zu verstehen, über was ich da singe. Warum mögen sie den Song also? Weil er eine spaßige Melodie hat, er ist energisch und hat viele Wechsel im Gesang. Bei dem Song kommen alle zusammen, egal, ob du ein ernster Erwachsener oder ein 11-jähriges Kind bist, das nur die Melodie mag.“

So viele Leute zu berühren ist ein unglaubliches Gefühl. Der kreative Prozess ist aber nicht immer einfach: „Manche Menschen denken, indem ihr Gedanke linear von Punkt A zu Punkt B geht und dann kommt der nächste Gedanke. Andere Menschen – wie ich – haben zwischen dem Anfang und Ende eines Gedankens eine lange, kurvenreiche Straße, bis sie ans Ziel kommen. Auf dieser langen Straße finde ich auch Inspiration; deswegen kreiere ich, weil ich etwas ausdrücken muss. Aber dort kann ich auch steckenbleiben und prokrastinieren.“

Der einzig sinnvolle Weg sei daher, immer weiterzumachen, meint Livingston. Er beschreibt es als: „eine Neigung zur Handlung. Das Vorwärtskommen zum nächstbesten Ding, das mir mein Bauchgefühl sagt, das mir Freude bringt. Je mehr Dinge ich erschaffe, desto länger wird meine Spur an Dingen, auf die ich stolz bin. Diese Spur schiebt mich in die Zukunft und hält mich davon ab, in der Vergangenheit zu hängen. Ich lehne mich nach vorne und vertraue darauf, dass ich meine Füße habe, um die Balance zu halten.“

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