Die Neunziger haben so manche Schmach hervorgebracht. Eurodance gehört klar dazu – und unter den vielen Seltsamkeiten in diesem Sammelbecken des Wahnsinns sticht Cotton Eye Joe von Rednex klar heraus. Heute wird der Song 30 – und ist populärer denn je.
Ach, es hätte doch alles so schön sein können. Die Sowjetunion bricht auseinander, der Kalte Krieg wurde nie warm, die Mauer fiel, Menschen, die sich in den Armen lagen. Gut, Looking For Freedom von David Hasselhoff war hart, aber das hätten wir noch irgendwie verkraftet. Mit dieser neuen Euphorie eines Jahrzehnts des Friedens kam dann aber eben postwendend die Quittung: Eine quietschbunte, primitive, sexistische und stereotype Idee namens Eurodance. Die Frauen singen und tanzen in knappen Höschen, die harten Typen „rappen“, dazu gibt es billigste Beats und stümperhafte Melodien.
Es hätte so schön sein können
Eigentlich dürfte da ja niemand drauf reinfallen, denkt man sich. Man muss sich die Neunziger ja nur mal sonst so anschauen: Was mit Nirvana anfängt und mit System Of A Down aufhört, kann doch so schlecht nicht sein. Wir hatten doch genug Gutes. Aber Eurodance denkt sich hämisch grinsend nur: Wartet alle mal ab. Unter vielen Seltsamkeiten (kennt jemand noch den Almöhi aus der Milkawerbung, der mit It’s Cool Man berühmt wurde? Oder Mo-Do?) schafft es besonders ein Projekt, sich nachhaltig in den Hirnwindungen festzusetzen – for better or for worse, wie der Engländer sagt. Die Rede ist, klar, von dem Cowgirl samt Boys von Rednex. Klingelt noch nicht? Dann mal hier reingehört und die verdrängte Erinnerung aufgefrischt:
Gern geschehen. Also. Rednex. Gehen wir erst mal die Fakten durch: Gegründet werden Rednex 1992 in Stockholm von drei Produzenten, über die Jahre wird die Band von einem rotierenden Cast aus „Musikern“ am Leben erhalten. Die eigentlich hirnrissige Idee, Eurodance mit Country und Bluegrass zu mischen, wird 1994 zum riesigen Erfolg: Mit der Coverversion des nordamerikanischen Country-Songs Cotton Eye Joe landen Rednex einen kolossalen Hit. Dessen Erfolg spricht wie so oft nicht für das Musikverständnis der Deutschen: Das Machwerk hält sich ganze 25 Wochen in den deutschen Singlecharts, zehn davon auf der Eins. Das ist bislang keiner schwedischen Produktion gelungen. Und auch ABBA kommen aus Schweden, okay?
Eine der erfolgreichsten Singles aller Zeiten
Wir Deutschen sind ganz verrückt nach diesem Trash und kaufen wie im Wahn die Regale leer: 1,7 Millionen Singles gehen allein hierzulande über die Ladentheken. Das macht den Song zu einer der erfolgreichsten Singles Deutschlands. Auch das einige Monate später nachfolgende Album Sex & Violins wird ein Selbstläufer und überzeugt auch die strengsten Ästheten mit einem formschönen Cover Artwork, das einen auf einem Holzboden stehenden Nachttopf zeigt, in den gerade jemand pinkelt. Im Nachttopf schwimmen die Visagen der Bandmitglieder. Sehr geschmackvoll, das alles. Dennoch: Der Erfolg allein gibt Rednex recht. Sogar in die US-Charts schaffen sie es mit ihrem Cotton Eye Joe. Wir Deutschen sind mit diesen seltsamen Vorlieben dann also doch nicht ganz allein.
Nun könnte man sagen: Ach, so waren sie eben, die Neunziger. Was haben wir gelacht. Doch Cotton Eye Joe hat andere Pläne. Der Song verschwindet zwar irgendwann wieder von der Bildfläche (wie zum Glück fast alles aus der unsäglichen Eurodance-Ära); aber er bleibt nicht in der Versenkung. Zu verdanken ist das (natürlich) TikTok , dem Garant für seltsame Trends, die noch seltsamere Songs wieder in die Charts spülen.
Rednex ist der meistgespielte Interpret der Welt
Bei Cotton Eye Joe beginnt alles mit einer Persiflage namens Gedagedigedagedago. Daraus wird ein Video, in dem ein Chicken Nugget und ein Chicken Wing den Song singen. Und damit über drei Milliarden Views generieren. Noch mal: Singende Hähnchenteile und Cotton Eye Joe. Drei Milliarden Views. „Mit einer Milliarde Aufrufe in nur acht Tagen übertrifft Rednex sogar Adeles Hello, das die gleiche Zahl in 87 Tagen erreichte“, so ein Statement der Band selbst. „Im Zuge des explosiven Wachstums von YouTube Shorts hat dieses jüngste Viralereignis innerhalb von 26 Tagen 20 Millionen Stunden Hörzeit generiert. Das entspricht 700 Millionen traditionellen Aufrufen und reicht aus, um zu behaupten, dass Rednex derzeit der meistgespielte Interpret der Welt ist.“
Au backe. Wir sind verloren.
Wenn man aber bedenkt, dass Rednex davor zu diesen Nineties-Revival-Festivals gehörten und gefühlt auf dem Niveau „Möbelhauseröffnung“ operierten, kann man davor schon mal den Hut ziehen. Und klar. Irgendwie hat es ja auch seinen Charme. Die Unschuld der Neunziger, die schon damals die Romantik des Wilden Westens glorifiziert. Da kommt viel Krudes zusammen. Der jüngste Erfolg dürfte jedenfalls sein Übriges tun, um diesen findigen schwedischen Produzenten noch die eine oder andere zusätzliche Krone in die Kassen zu spülen. Denn klar ist ja: Von diesem Erfolg profitiert auch der Originalsong. Bei Spotify steht er inzwischen bei knapp 370 Millionen Plays, bei YouTube sind es 260 Millionen Klicks. Alles für einen billigen Beat, ein Banjo und einen zotigen Text. Wirklich keine schlechte Ausbeute.