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Foto: Universal Music

Review: Mit „Hit Me Hard And Soft“ wird Billie Eilish zur Joni Mitchell ihrer Generation

Als Teenagerin Megastar, schon auf der zweiten Platte desillusioniert davon und beim dritten Album endgültig eine Klasse für sich: Mit Hit Me Hard And Soft legt Billie Eilish das furchtloseste Pop-Manifest des Jahres vor.

von Björn Springorum

Seit Billie Eilish mit 17 die Popwelt eroberte, ist sie höchsten Erwartungen ausgesetzt. Kritischen Blicken, die jeden ihrer Schritte sezieren, Neider*innen, die sich nichts mehr wünschen als sie stolpern, am liebsten sogar stürzen zu sehen. Bisher hat sie ihnen diesen Gefallen nicht getan. Mittlerweile ist sie 22 Jahre jung, hat in dieser Zeit aber bereits mehrere komplette Karrieren hinter sich. Sie ist die erste Künstlerin des 21. Jahrhunderts, der mit unter 20 eine Nummer Eins in den USA gelang; sie hat mehr Platin an der Wand hängen als manche große Rockband, die seit den Achtzigern im Geschäft ist; sie hat schon zwei Oscars gewonnen. 76 Milliarden Streams weltweit gehen auf ihr Konto.

All das kommt nicht ohne Preis. Happier Than Ever, ihr zweites Album von 2021, analysierte ihren Aufstieg zu Teenage Superstar kritisch und desillusionierend, zerlegte die beißenden Kommentarspalten, handelte von Unsicherheit und Verletzlichkeit. Und kam nach dem psychotischen Goth-Vibe des Debüts When We All Fall Asleep, Where Do We Go? mit einem völlig neuen, blonden Fifties-Vamp-Look um die Ecke.

Bemerkenswert unpassend für die große Bühne

Danach zieht sie sich zurück. Depressionen und Ängste plagen sie, auch der nagende Zweifel, ob es das nicht vielleicht schon gewesen sei mit ihrer Karriere. Dann kommt der zweite Oscar, diesmal für What Was I Made For?, ihren Barbie-Titelsong. Und irgendwie merkt sie: Nee, da kommt wohl doch noch was. Ihr drittes Album Hit Me Hard And Soft ist da längst fertig. Es ist das erste Album, das sie schreibt, seit sie in den USA legal Alkohol kaufen und trinken darf. Und doch wirkt es unglaublich, wie viel sie bereits erreicht, verändert, angestoßen hat. Wie viel sie als Künstlerin bereits auf dem Tacho hat.


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Sicher, man kann Billie Eilish nicht ohne ihren Bruder, Co-Songwriter und Produzenten Finneas evaluieren; seit Tag eins formen die beiden eine der kreativsten und erfolgreichsten Geschwister-Imperien der Poplandschaft – und schreiben das Regelwerk dieser Musik konstant um. Das zeigt auch Hit Me Hard And Soft: Für einen Arena-Popstar wie Billie Eilish ist die Musik bemerkenswert unpassend für die große Bühne und die große Geste. Knallig, laut, glitzernd und eingängig ist hier zunächst mal gar nichts. Subtil, intim, ruhig inszenieren die beiden ihre Musik, packen sie voller kleiner versteckter Details, die man allerhöchstens erahnen kann.

Es beginnt zurückhaltend, gedämpft

Das ist so weit von Pop entfernt, wie man nur sein kann, ohne das Genre gänzlich zu verlassen. Der Opener Skinny, eine Auseinandersetzung mit körperdysmorpher Störung, kommt wie ein Wispern daher, mit dezentem Fingerpicking an der Akustischen. Als würde sie den Hörerinnen und Hörern direkt ins Ohr flüstern. Zurückhaltend geht es weiter: Akustische Gitarren, Streicher-Arrangements, sanft pulsierende Beats und die eine oder andere flirrende Retro-Synth-Linie wie bei Chihiro, angelehnt an den gleichnamigen Kult-Anime. Alles ist gedämpft, alles wirkt wie durch Watte rezipiert. Beim starken Lunch gipfelt das in Surf-Gitarren, zackigen Beat und ein Empfehlungsschreiben für lesbischen Sex. Wenn sie schon ungewollt in der Öffentlichkeit geoutet wird, kann sie doch jetzt bitteschön auch darüber singen.

Die Stimmung kippt

Das gilt jedoch nur für die erste Hälfte des Albums. Wie beim Titeltrack des letzten Albums, der als elegische Bar-Piano-Nummer begann und plötzlich in einen harten Gitarrensturm explodierte, werden die letzten Song auffällig kälter, desillusionierter, abgekämpfter und episodischer. Für die letzten Songs verlässt Billie Eilish endgültig den bei ihr eh schon weit gefassten Pop-Rahmen, springt hin und her, wirkt eher skizzenhaft als stringent.

Mit Songs, die teilweise an der Sechs-Minuten-Marke kratzen, schält sich abermals eine andere, wenn auch ebenso furchtlose Billie Eilish aus dem Kokon der globalen Erwartung. The Greatest kippt irgendwann in eine ausladende, psychedelische, verträumte Rocknummer mit ordentlich Bombast, L’Amour de Ma Vie stolpert irgendwann in einen abgehackten, wummernden Beat und schrille Vocals. Höhepunkt ist jedoch The Diner, ein Song wie aus einem David-Lynch-Film. Surreal, abgründig, wie high, voller Echos und einer Aura wie in einem verlassenen Varieté-Theater.

Die neue Joni Mitchell

Noch mal: Das hier ist nicht irgendeine Indie-Künstlerin, die ihre spleenige Musik vor ein paar hundert Fans zelebriert; das hier ist eine der größten Künstlerinnen des 21. Jahrhunderts. Hit Me Hard And Soft ist ein Album, das uns immer wieder auf falsche Fährten lockt. Das uns einiges abverlangt. Und vor allem keine großen Hits bietet. Das Publikum selbst ist gefragt, muss seinen Beitrag leisten, um diesen Mythos von einem Werk aufzudröseln, zu durchdringen. Für den chronisch unter Aufmerksamkeitsdefizit leidenden Pop ist das schon grenzwertig avantgardistisch. Und hat nicht nur wegen des großen Closers Blue viel von Joni Mitchells gleichnamigem, ebenso furchtlosen Meisterwerk.

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