Vom Hardcore-Punk entwickelten sich Turnstile zu einer Band mit Sounds aus etlichen anderen Genres und wurden damit einer der größten aktuellen Hypes der Rock-Welt. Auf Never Enough setzen sie ihre Entwicklung fort – mit Ästhetik, mit Überraschung und mit Bravour.
Die Märtyrer eines Genres?
Sie betrogen den Hardcore-Punk. Das scheint das Narrativ zu sein, das Turnstile nun für immer tragen müssen. Sie zogen aus, um Indie, ja, gar Pop (!) zu umarmen und selbst deiner Oma Hardcore appetitlich zu machen. Ja, irgendwo stimmt das, und im Jahr 2021 fühlte sich ihr Album Glow On vielleicht an, als würde da eine Hardcore-Band versuchen, das Genre zu revolutionieren. Nicht, dass das Ergebnis nicht gut gewesen wäre – im Gegenteil, man kann Glow On mit gutem Gewissen eines der relevantesten Rock-Alben der letzten Jahre nennen. Aber sollte es wirklich eine Revolution des Hardcore sein? Ihr neues Album Never Enough zeigt: Turnstile sind einfach eine gute Band, die mittlerweile recht eigene Musik macht, darunter auch mal Hardcore-Punk, unter einigen Schichten Indie-Glitzer. Vor allem machen Turnstile gute Musik, Genre mal ausgelassen.
Und natürlich setzen sie auf Never Enough die Entwicklung fort, sich immer mehr vom Punk zu entfernen. Die Riffs existieren in den meisten Songs noch, aber die Produktion klingt noch weniger roh, noch aufgeräumter, und Brendan Yates schreit quasi gar nicht mehr herum. Songs wie Seein’ Stars oder I Care sind noch offensichtlicher und noch stolzer poppig als zuvor.
Immer noch mehr und immer überraschender
Noch, noch, noch… klingt ähnlich wie der Titel Never Enough. Turnstile können nicht aufhören, sich weiter zu entwickeln. Never Enough ist ein Übergangsalbum, aber erstaunlicherweise klingt das alles ziemlich stimmig und definiert. Es kommen immer noch mehr Ideen dazu, aber kaum eine davon wirkt unpassend. Unerwartet ja, etwa Bläser oder ein langatmiges Flöten-Solo – aber so richtig fehl am Platz ist nichts.
Generell spielt das Album oft mit den Erwartungen. Einige Songs fangen heavy an, brechen dann aber plötzlich ab, um in sphärisches Synth-Geschwurbel überzugehen und erstmal darauf zu meditieren. Look Out For Me treibt das auf die Spitze, mit einem Synth-Part, der sich über Minuten zu einem pulsierenden House-Beat aufbaut. Dabei fing der Song doch mit Hardcore-Riffs an? Und auch der letzte Track, Magic Man, ist ein überraschend reduziertes und deprimierendes Ende. Nur auf Orgeln und Synths singt Brendan Yates und klingt dabei so einsam und niedergeschlagen, dass es das Album auf wunderbar ernüchternde, leere Weise abschließt.
Sie wissen, was sie tun
Warum funktioniert das nun alles so gut? Turnstile haben ein Gespür für verschiedenste Stile wie eben Pop, Indie usw. und sie verstehen, was diese Richtungen ausmacht. Zum einen beherrscht die Band Groove. Die Drums scheuen sich schon lang nicht mehr vor tanzbaren Percussion-Einlagen oder gar Latin-Rhythmen (Dreaming). Die Lead-Gitarren in Light Design zischen genau in den richtigen Momenten kurz ein, dass ein fesselnder Groove entsteht.
Zum anderen: Melodien und Stimmung können Turnstile sowieso. Der Titeltrack mag vom Aufbau her extrem nah an ihrem eigenen Song Mystery dran sein, schafft es aber dennoch, genau die gleichen nostalgischen, triumphalen Vibe einzufangen.
Aber Never Enough demonstriert eine noch definierendere Charakteristik: Turnstile haben ein sehr ästhetisches Verständnis von Musik. Nur weil viele Sounds unerwartet sind, heißt nicht, dass sie unüberlegt oder wahllos sind. Alle noch so unerwarteten Sounds passen in den luftigen, abgespaceten Vibe. Dieser war auf vorherigen Alben in Momenten greifbar, hier ist er omnipräsent. Jeder Ausflug in Hardcore-Riffs mündet im Weltall oder ist unterfüttert von poppigen Grooves. Der Song Sole perfektioniert den Stil, den Turnstile sich zu eigen gemacht haben: dreschende Riffs, eine riesige, mitgröhlbare Hook, aber dann auch eine Bridge mit catchy Synth-Solo – und zum Schluss wieder auf die Fresse.
Nie endende Entwicklung
Diese Beschreibung von Sole fasst die Entwicklung der Band ganz gut zusammen. Turnstile kennen ihre Wurzeln, schätzen diese auch. Aber schon früh merkten sie, dass man sich ruhig weiter zu anderen Genres entwickeln darf. Turnstile versuchen nicht, sich als Hardcore-Band zu vermarkten. Sie nutzen die Werkzeuge, die ihnen der Hardcore beigebracht hat, genauso viel wie die Werkzeuge, die sie aus anderen Stilen kennen. Daraus haben sie sich einen eigenen Cocktail gemischt, der immer bunter wird.
Never Enough klingt größer, verspielter und psychedelischer als zuvor, dennoch immer noch heavy in den richtigen Momenten. Es mag nicht so viele Instant-Hits und zeitlose Ohrwürmer wie Glow On haben, ist aber ästhetisch noch stimmiger. Und gleichzeitig weiß man nie, was als nächstes kommt; die uninteressantesten Momente auf dem Album sind die, in denen die Band sich zu wiederholen scheint. Aber immer der Nase nach in neue Gefilde gehen, das können Turnstile einfach. Und wie es der Titel andeutet, wird diese Entwicklung nicht aufhören.