Anekdoten, Jubiläen und wilde Geschichten: Was an diesem Tag in der Welt der Musik passiert ist, lest ihr täglich in unserem Zeitsprung. Heute: 12.2.2000.
von Bolle Selke und Christof Leim
Die Karriere von Screamin' Jay Hawkins beginnt als boxender Opernsänger. Später trägt er auf der Bühne wilde Voodoo-Gewänder und heult, keucht, gurgelt, kreischt sich durch einige der außergewöhnlichsten Auftritte der Rockgeschichte. Am 2. Februar 2000 geht der Urvater des Shock-Rock im Alter von 70 Jahren von uns.
Hier könnt ihr euch The Very Best Of Screamin’ Jay Hawkins anhören:
Während des Zweiten Weltkriegs dient er unter seinem Geburtsnamen Jalacy J. Hawkins als Angehöriger der US-Army im pazifischen Ozean. Er gerät in Gefangenschaft und wird nach eigenen Angaben auch gefoltert. Er habe sich gerächt, indem er seinem Peiniger eine Handgranate in den Mund gesteckt und die Sicherung gezogen habe, erzählt er später. Als ausgezeichneter Boxer hält der 1,83-Meter-Mann Hawkins im Jahr 1949 außerdem den Mittelgewichtstitel von Alaska.
Mit Schlägen an die Oper
„Meine Mutter sagte, dass mein Vater von allen Männern der härteste, der gemeinste und der faulste war“, erzählt er über seine Jugend. „Sie schaute mich an und sagte: ‚Du bist zu nichts zu gebrauchen, du wirst genauso sein wie dein Vater.‘ Ich erwiderte: ‚Ich werde es dir zeigen. Ich werde etwas aus mir machen.’“
Beeinflusst vom Bürgerrechtler und Sänger Paul Robeson will der klassisch ausgebildete Pianist Hawkins eigentlich an die Oper gehen. Der Legende nach verprügelt er dort die rivalisierenden Anwärter auf Gesangsjobs. In deren Schuhen möchte man nicht gesteckt haben, trotzdem können wir uns glücklich schätzen, dass diese Strategie nicht aufgegangen ist. Denn nun wendet sich Screamin’ Jay Hawkins dem Bluesrock zu.
Die Aufnahme läuft aus dem Ruder
Im Jahr 1956 geht er ins Studio, um I Put A Spell On You einzusingen. Immer noch beeinflusst durch seine eher klassischen Vorbilder stellt er sich den Song, der später sein bekanntestes Stück werden wird, als süße Liebesballade vor. Die Session will aber nicht so recht gelingen, also wiederholt man die Aufnahmen unter Zuhilfenahme des ein oder anderen guten Whiskeys so lange, bis alle Anwesenden sturzbetrunken sind.
Screamin‘ Jay grunzt und brüllt sich durch I Put A Spell On You und ist anschließend so dicht, dass er am nächsten Tag benebelt und ohne Erinnerung an den Vorabend aufwacht. Er muss sich das Lied sogar neu anhören, um es wieder zu lernen. Das Ergebnis aber sind Urschreie, gutturales Stöhnen und eine der größten, zumindest aber abgedrehtesten Gesangsdarbietungen, die es je auf Vinyl geschafft hat. Hunderte von Coverversionen dieser Voodoo-Hymne bescheren dem Hexendoktor später ein ansehnliches Auskommen, denn neu aufgelegt wird das Stück von so unterschiedlichen Stimmen und Bands wie Nina Simone, Alan Price, Marilyn Manson, Jeff Beck, Iggy Pop, David Gilmour, Buddy Guy, The Animals und Creedence Clearwater Revival.
Die Erfindung des Shock Rock
Dem Liebeslied im Voodoo-Gewand folgen unter anderem Stücke über Kannibalismus (Feast Of The Mau Mau) und das urkomische Constipation Blues („Verstopfungs-Blues“), das die Rampensau gerne mal mit einer Kloschüssel zum besten gibt und auf dem Album mit den Worten eröffnet:
„Sehr geehrte Damen und Herren, die meisten Menschen schreiben Lieder über die Liebe. Oder über Herzschmerz, Einsamkeit, Pleite sein ... Niemand bisher hat ein Lied über echten Schmerz aufgenommen. Die Band und ich sind gerade aus dem Krankenhaus zurückgekehrt, wo wir einen Mann an der richtigen Quelle erwischt haben. Wir haben das Lied Constipation Blues genannt.“
Der Discjockey und Promoter Allan Freed hat schließlich die Idee, Jay für ein Konzert in Cleveland in einem Sarg auf die Bühne zu bringen. Laut Hawkins hat Freed ihm 5.000 Dollar dafür gezahlt, andere Quellen reden von 300 Dollar. Der Sarg begeistert die Menge und bleibt folglich regelmäßiger Bestandteil der Konzerte. Neben Leopardenfell und rotem Lederkostüm spielt auch Henry eine wichtige Rolle bei den Konzerten: ein rauchender Totenschädel auf einem Stock.
Die Hinterlassenschaft
Diese außergewöhnliche Show beschert Hawkins den unbestrittenen Titel „Urvater des Schock-Rock“. Unter Hawkins' Nachahmern befindet sich auch Screaming Lord Sutch, selbst ein Vorreiter des Genres, der nicht nur den Namen bei ihm abkupfert. Andere namhafte Nachfolger sind Großmeister Alice Cooper und Marilyn Manson.
Ab Ende der Siebziger betätigt sich Screamin’ Jay Hawkins auch als Schauspieler, unter anderem in einer Nebenrolle in Jim Jarmuschs Mystery Train (1989). Bekannt ist er vor allem in Großbritannien, wo er bei The Clash und Nick Cave im Vorprogramm spielt und 1993 mit Tom Waits‘ Heart Attack And Vine in der Top 40 landet.
Der letzte Wille
2000 stirbt Hawkins in Neuilly-sur-Seine bei Paris an den Folgen einer Herz-Operation – und hinterlässt einer Sage nach 75 Nachkommen. Jahre lang ist die Webseite www.jayskids.com als Austauschplattform aktiv. Über seine Beerdigung sagt der Künstler: „In meinem Testament steht, dass ich eingeäschert werden will. Der Staub soll über dem Ozean verstreut werden, damit ich als kleine Partikel in die Augen aller fliegen und jeden für den Rest seines Lebens verrückt machen kann.“