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Foto: Kevin Westernberg

Steven Wilsons Mondfahrt: „The Overview“ ist der feuchte Traum aller Prog-Freaks

Steven Wilson zeigt der Musikwelt mal wieder, wie Prog geht: Die zwei überlangen Songs von The Overview sind die legitime Fortsetzung der interstellaren Pink-Floyd-Reisen.

Wer macht so etwas heute denn bitteschön noch? Musik um der Musik Willen. Konzeptalben. Songs, die nicht für einen Streaming-Algorithmus geschrieben sind. Einen zumindest gibt es. Und selbst ihm hätte man ein progressives Werk dieser Größenordnung fast nicht mehr zugetraut. Was Steven Wilson aber mit The Overview kreiert hat, ist der feuchte Traum eines jeden Prog-Freaks – ist ein Album, das es im Jahr 2025 eigentlich gar nicht geben dürfte.

Musik wie in den Siebzigern

Keine Vorabsingle, kein fancy Lyric-Video, nur ein kurzer Teaser: Mehr war es nicht, was uns Steven Wilson vor Veröffentlichung dieses Albums gegönnt hat. Jetzt ist The Overview da. Und macht Musikhören im Alleingang wieder zu diesem sakralen Ereignis, das es in den Siebzigern war. Benannt nach dem „Overview Effect“, der die Bewusstseinsveränderung von Weltraumreisenden bezeichnet, die die Erde aus dem All gesehen haben und daraufhin eine tiefgehende Transformation durchlebt haben, tobt sich der Prog-Maestro in zwei überlangen Songs nach allen Regeln der Kunst aus.

The Overview im Circle Store:

Und das ist wirklich so gemeint: Wahrscheinlich nutzt Wilson für dieses Album jedes Instrument, das in der Geschichte der Rockmusik jemals genutzt wurde. Manchmal hilft viel eben viel, und in diesem besonderen Beispiel eines wahnwitzigen, überbordenden musikalischen Geistes ist die große Geste ausnahmsweise mal genau richtig. Das hier ist Interstellar Overdrive, aber 2025; die legitime Schwester von The Dark Side Of The Moon und Space Oddity.

Reise zum Mond

Natürlich war Steven Wilson immer Prog, egal, ob solo, mit Porcupine Tree, Blackfield oder Storm Corrosion. In gewisser Weise war er aber nie mehr Prog als jetzt. The Overview ist ein kosmisches Meisterwerk, ein moderner Klassiker, das in vielen Jahren als Referenzwerk des Prog neben den großen Epen einsortiert werden wird. Es ist ein 42-minütiges Werk über den Weltraum, ein außerirdischer Blick auf unser kleines, unbedeutendes und doch einzigartiges Leben hier auf dieser kleinen blauen Kugel mitten im unendlichen Nichts. Nach seinen zuletzt sehr weltlichen Themen ist das natürlich das Proggigste, das man machen kann: Man fliegt einfach zum Mond.

Dabei stellt das Album keine neuen Fragen. Es inszeniert sie nur anders. Ob Pink Floyd oder Camel: Allen ging es stets um das Menschliche, selbst wenn der Blick dazu erst mal zu den Sternen gehen musste. Wie der Blick in den Nachthimmel, führt auch der Genuss von The Overview dazu, dass man automatisch über das Leben nachdenkt, sich all diese kosmischen Fragen stellt. Dabei ist die Musik unapologetisch und klassisch, ist durchsetzt von der gesamten Musikgeschichte und zugleich beschienen von einer zukünftigen Sonne. Hier klingt der Anachronismus nach Zeitgeist und die Vision nach Vergangenheit. Klingt paradox? Nö, das ist Prog.

Dabei wechseln ruhig mäandernde und blubbernde Phasen voller Synthesizer, Orgeln und Flächen mit rockigen Eruptionen, Beats mit synkopischen Geistesblitzen. Mal Post-Rock, mal Prog, mal Electronica: Steven Wilson legt alle Karten offen auf den Tisch. Dazu gibt es Wilsons Frau Rotem, die im zweiten Teil als Erzählerin fungiert und eine Liste von Planeten, Galaxien und Konstellationen rezitiert. Sogar Saxofon und Vibrafon lässt man ihm an diesem Punkt in seiner Karriere durchgehen. Weil einfach jede und jeder merken muss, wie glücklich wir uns schätzen können, einen Musiker wie ihn zu haben.

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