Anekdoten, Jubiläen und wilde Geschichten: Was an diesem Tag in der Welt der Musik passiert ist, lest ihr täglich in unserem Zeitsprung. Heute: 1.12.1976.
von Christof Leim und Tom Küppers
Rein musikalisch gesprochen haben die Sex Pistols mit nur einem richtigen Album die Musikwelt auf den Kopf gestellt. Nevermind The Bollocks, Here’s The Sex Pistols von 1977 ist ein unsterblicher Punk-Klassiker, der nach wie vor die Attitüde junger Rock’n’Roll-Künstler prägt. Ihr sagenumwobenes Skandalimage hingegen verdanken die Briten dagegen einem einzigen TV-Auftritt, der heute kaum jemanden mehr hinter dem Ofen hervorlocken würde.
So geht Punk! Die essenziellen Klassiker der Sex Pistols zum Reinhören:
Ein Klick auf „Listen“ bringt die ganze Revolte.
Ausgerechnet Freddie Mercury ist schuld: Der Queen-Sänger leidet Ende November 1976 an Zahnschmerzen, weswegen seine Band einen geplanten Fernsehauftritt in der Show Today des Londoner Senders Thames Television absagen muss. Doch die Plattenfirma will die Sendezeit nicht der Konkurrenz überlassen und entscheidet sich dafür, kurzerhand ihr neuestes Signing in die Sendung zu schicken: die Sex Pistols.
So könne man der just veröffentlichten Single Anarchy In The UK noch ein wenig Schub verleihen, argumentieren Management und Promoabteilung. Die Band willigt ein und findet sich am Nachmittag des 1. Dezember 1976 in den Studios ein. Zur Entourage gehört unter anderem die befreundete Sängerin Siouxsie Sioux. Um sich die Wartezeit zu verkürzen, verköstigt die Reisegruppe nicht ganz überraschend ein paar Flaschen alkoholischer Erfrischungen. Pistols-Gitarrist Steve Jones gesteht in der empfehlenswerten Dokumentation The Filth & The Fury Jahre später, er habe sich vor Ort prächtig amüsiert und sei „gut angeschickert“ vor die Kameras getreten.
Schon ab dem Moment, als sich Band und Begleiter neben dem Gastgeber Bill Grundy platzieren, geht alles schief. Grundy stellt die Musiker vor mit „Sie sind noch betrunkener als ich” (und wird später behaupten, das sei lediglich ein Witz gewesen). Schon die erste Frage nach einem Vorschuss in Höhe von sagenhaften 40.000 Pfund, den die Pistols kassiert haben sollen, quittiert Jones mit einem saftigen „We've fuckin' spent it, ain't we?“ Und da war es, das böse Wort mit „F“! Eine solche Sprache zur besten Sendezeit im Fernsehen hat die Nation noch nicht erlebt. Unerhört! Aber das ist noch nicht alles.
Als sich der Moderator einen kleinen Flirtversuch mit der im Hintergrund stehenden Siouxsie Sioux erlaubt, weist Jones ihn mit deftigen Worten in die Schranken: „'You dirty bastard, you dirty fucker! What a fucking rotter!“ Grundy verabschiedet sich schließlich mit einem hoffnungsvollen „Ich hoffe, ich sehe euch nie wieder“. Wer möchte, kann hier den genauen Wortlaut des Schlagabtausches nachlesen oder einfach das folgende Video genießen.
Während die Sex Pistols zurück hinter die Bühne begleitet werden, klingeln die Telefone des Senders Sturm. Die Angestellten sind mit der über sie hereinbrechenden Welle an Empörung überfordert, und es passieren zwei Fehler. Dass die Band unbeaufsichtigt in der Garderobe zurückgelassen wird, mag in der allgemeinen Hektik noch nachvollziehbar sein. Dass die auflaufenden Anrufe allerdings ausgerechnet genau zu ihnen in die Umkleide geleitet werden, kann man sich eigentlich nicht ausdenken. Da sich die Musiker ohnehin bereits in Geberlaune befinden, bekommen die Anrufer allesamt ihr Fett weg.
Am nächsten Morgen beherrschen die Sex Pistols die Schlagzeilen und sind tatsächlich über Nacht berühmt geworden. Doch um welchen Preis? Der britische Autor Jon Savage stellt in seinem Standardwerk England’s Dreaming eine interessante Theorie auf: Seiner Meinung nach hat dieser Auftritt der Karriere der Band tatsächlich nachhaltig geschadet. Von diesem Moment an seien zum Beispiel deutlich weniger neue Songs entstanden, schreibt er, und bewertet das Ganze als „traurige Berühmtheit“.
Die Titelseite des „Daily Mirror“ am Tag nach der AusstrahlungDie Plattenfirma zeigt sich „not amused“ und kündigt den frisch unterschriebenen Vertrag wieder. Kurz darauf steigt Bassist Glen Matlock aus und wird von Sid Vicious ersetzt. In der Folge führen Drama und Skandale sogar so weit, dass die Musiker unter falschem Namen auftreten müssen, weil die Veranstalter zu viel Angst vor Krawallen haben. Nur ein Jahr nach ihrem Debüt zerfallen die Sex Pistols endgültig in ihre Einzelteile. Auch Gastgeber Bill Grundy ergeht es nicht besser: Er wird kurz nach der Sendung gefeuert, und trotz einer späteren Wiedereinstellung ist seine Laufbahn mit diesem Zwischenfall de facto beendet. Was so ein paar Schimpfworte im Fernsehen doch alles auslösen können…
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