Wie sollte ein Album mit einem solch philosophisch aufgeladenen Namen nicht ein Riesenerfolg werden? “Songs in the Key of Life”. Der Notenschlüssel als große Metapher auf die Lebenslagen, Sehnsüchte und Stimmungen der Menschen. Wobei Stevie Wonder von einem zentralen Schlüssel ausgeht, es heißt schließlich Key, nicht Keys. Demnach gibt es eine bestimmende Tonlage für das Leben. Auf dem Album jedenfalls müssen wir nicht lange nach ihr suchen.
Notenschlüssel (Engl. key) dienen in der Musik dazu, im Notensystem festzulegen, welche Tonhöhe die fünf Notenlinien repräsentieren, auf denen Noten gelesen werden. Jeder Schlüssel hat einen Referenzton, zum Beispiel der Violinenschlüssel das G auf der zweiten Notenlinie von unten. Aus der Position des G’s leiten sich die Lage der anderen Töne ab, die Bedeutung der Notenlinien erschließt sich erst durch den Schlüssel. Die verschiedenen Notenschlüssel repräsentieren unterschiedliche Tonlagen. Für jedes Instrument und jede Stimmlage ist einer der Schlüssel besonders gut geeignet – ob Violinschlüssel, Bassschlüssel oder Tenorschlüssel.
Der Notenschlüssel ist bei Stevie Wonders “Songs in the Key of Life” eine gewaltige Metapher auf alles, was das Leben auf dieser Welt umspannt. Alles ist angelegt in diesem Namen: Stimmungen, Lebenslagen, die Berücksichtigung verschiedener Instrumente (aka Menschen) mit unterschiedlichen Tonlagen.
Was den Entstehungsprozess dieses aufwendigen Doppelalbums mit 21 Songs angeht, so verlangte sich Stevie Wonder – zum Zeitpunkt der Aufnahmen bereits ein musikalischer Superstar weit über die Motown-Welt hinaus – einiges ab. Über zwei Jahre, von 1974 bis 1976, dauerten die Aufnahmen, im Jahr 1975 hatte sich Wonder eigentlich eine kreative Pause erbeten, untätig war er in dieser natürlich nicht.
Und eigentlich wollte Wonder seine Karriere beenden, nach Ghana emigrieren und sich dort für Kinder einsetzen. Daraus wurde dann aber nichts, die unerschöpflichen künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten Wonders sowie ein neuer Vertrag ließen den damals erst 26-Jährigen an seiner Kometenkarriere festhalten. Der neue Vertrag mit Motown ermöglichte ihm uneingeschränkte Autorität über alle Aufnahmeprozesse, alle Tourneen, alle wirtschaftlichen Entscheidungen sowie die Garantie für sieben Alben und ein Gehalt von 37 Millionen US-Dollar.
Aus der kreativen Pause heraus entstand “Songs in the Key of Life”, das vielleicht ambitionierteste Projekt Wonders. Kritiker und Publikum liebten und lieben das Album heiß und innig, der Rolling Stone zählt es auf Platz 57 zu den 500 wichtigsten Alben und die Library of Congress schlug das Album und seinen Schöpfer mit den Worten “kulturell, historisch und ästhetisch bedeutsam” zum Ritter.
Stevie Wonder ist ein bekennender Perfektionist und als dieser verbrachte er tagelang eingeschlossen in Aufnahmestudios in Hollywood, Sausalito und New York City. Er soll in dieser Zeit weder gegessen noch geschlafen haben und sein Team hatte Mühe, seiner Hartnäckigkeit, seinem Ideenreichtum, seinen Ansprüchen, seinen Wünschen und Vorstellungen gerecht zu werden. Er selbst drückte das so aus: “If my flow is goin', I keep on until I peak.”
Mit etwas Fantasie kann man Stevie Wonders Magen in dem Song Joy Inside My Tears im Intro gewaltig knurren hören. Doch das war wohl nur der unstillbare Hunger nach noch besseren Aufnahmen und nicht nach einem Big Mac – oder doch nur eine rumpelige Bassline.
Musikalisch gesehen ist das Album ganz seinem Namen entsprechend ein Spaziergang nicht nur durch die verschiedensten musikalischen Stile und Epochen, sondern auch durch Wonders Leben. Es enthält Erinnerungen an Wonders Kindheit, an erste Liebesgeschichten ( Knocks Me Off My Feet), schmerzhafte Trennungen und erdrückenden Liebeskummer ( Ordinary Pain). Andere Songs handeln vom Glauben an Gott ( Have A Talk With God), von der Liebe zwischen allen Menschen und von sozialer Gerechtigkeit ( Pastime Paradise, Black Man).
Politisch ist vor allem Black Man, mit dem folgenden Refrain:
We pledge allegiance
All our lives
To the magic colors
Red, blue and white
But we all must be given
The liberty that we defend
For with justice not for all men
History will repeat again
It's time we learned
This World Was Made For All Men
Nach der Veröffentlichung am 28. September 1976 dauerte es nur wenige Tage und alle Welt sprach über das künstlerische Wunder des Stevie Wonders. “Songs in the Key of Life” brach alle Rekorde – in den Charts, auf Preisverleihungen und genauso in den Einkaufsläden. Heute gilt es als Wonders Signature Album. Und Wonder sieht das offenbar selbst so. In einem Interview 1995 sagte er sinngemäß: “Mit “Songs in the Key of Life” bin ich von all meinen Alben am meisten zufrieden. Einfach am Leben zu sein in diesem Moment der Geschichte. Ich war gerade Vater geworden und Gott hatte mir die Energie und Kraft gegeben, die ich brauchte.” Sieht so aus, als hätte Wonder die richtige Tonlage gefunden, um nicht nur seinen eigenen Gedanken, Geschichten, Wünschen und Kritiken Ausdruck zu verleihen. Was die vielen Fans des Albums berührt ist die Übertragbarkeit der Botschaft. Hier singt nicht nur ein Ausnahmekünstler für und von sich. Stevie Wonder singt für uns alle.