Man muss sich die Arbeit von Mickey Hart ein wenig vorstellen wie die eines Historikers oder eines Archäologen. Einen guten Teil seiner Zeit verbringt der Grateful-Dead-Drummer in Archiven und Sammlungen. Statt sich jedoch über staubüberzogene Sammelbände zu beugen oder nach Artefakten in vorchristlicher Erde zu wühlen, hört sich Hart durch Jahrhunderte und über Kontinente hinweg durch Soundschnipsel. Er hört, er sammelt, er sampelt.
Den Opener seines neuen Albums RAMU hat Hart in der Library of Congress gefunden: Eine Tabak-Auktion in Kentucky aus dem Jahr 1948 diente dem Perkussionisten und Musikwissenschaftler als Grundlage für Auctioneers. Die Rufe des Auktionators, die Antworten der Bietenden, das adrenalingeschwängerte Treiben der Versteigerung werden unterlegt mit einem polyrhythmischen Uptempo-Wirbel.
Hört euch hier Mickey Harts letztes Album Mysterium Tremendum an und lest weiter:
Billboard gegenüber erklärte Hart: „Das Tempo dieser Versteigerung ist aus Rhythmus-Gesichtspunkten fantastisch, es hat eine eigene Melodie, wie ein Tanz. Man könnte die Sprache des Auktionators als ein Vorgänger von Rapmusik verstehen.“ Was für ein Signal-Opener!
Hart ist fasziniert von der Arbeit in den Archiven. Er gräbt aus, was sonst ungehört bleibt. Genau hierin sieht er die Mission seiner Solo-Arbeiten: „Ich möchte, dass die Menschen hören, was alles in den Sound-Archiven der Welt liegt, unerhört.“
RAMU, Harts inzwischen 14. Soloalbum, steht für "Random Access Musical Universe" und ist auch der Name einer eigenen Database, die Hart seit den 1980er Jahren pflegt und mit Sound befüllt. Besonderen Reiz macht für ihn die Verschmelzung von verschiedenen Soundscapes aus, die so niemals "in natura" zu hören wären.
Wer nun glaubt, Hart arbeite alleine in Archiven und Bibliotheken, wird gleich in den folgenden Songs eines besseren belehrt. Avey Tare von Animal Collective steuert die Vocals auf dem vielleicht konventionellsten Stück Wayward Son bei, die Sängerin und Spoken Words-Artistin Tarriona Tank Ball von den allerorts gehypten Tank and the Bangas singt das fantastische Big Bad Wolf.
Der Song beginnt mit einem Zusammenschnitt von Hobbes pessimistischer Behauptung, der Mensch sei dem Menschen ein Wolf und Rousseaus Gegenthese, von Natur aus sei der Mensch gut. Angelegt im Menschen sei stets Beides, man müsse nur den Riss im gefestigten Selbstverständnis finden, ist das Resümee bei Hart. Nach dem Intro beginnt Ball ihren Sprechgesang, immer ist sie heißer, stets klingt sie ein wenig wie die Poetry Slammerin, die sie früher war, bevor ihre Band 2017 den NPR Tiny Desk Contest gewann und nun durch die Decke geht.
Weitere Kollaborationen sind mit dem Dead & Co. Bassisten Oteil Burbridge, mit dem Gitarristen Steve Kimock, mit Sikiru Adepoju, Jason Hahn und anderen entstanden. Die im digitalen Telefonbuch eingespeicherten Kontakte Harts sind ein ganz eigenes Soundarchiv der Großen und ganz Großen der World und Experimental Music.
Billboard sagte Hart, er habe auf RAMU vor allem den zahlreichen Fallen der Konventionen ausweichen wollen. „Ich wollte unbedingt vermeiden, dass es sich nach einem klassischen Pop- oder Rock-Album anhören würde. Ich habe kaum Bass, sehr wenig Gitarre, keine Keyboards verwendet und wenig klassische Vers-Chorus-Bridge-Chorus-Strukturen.“
Ein Album ohne all diese Kompetenten kann schnell zerfasert wirken, ohne Thema, ohne Struktur. Nicht so bei Hart, der seine Soundexperimente wie Landschaften inszeniert, die man mit einem Ultraleichtflugzeug überfliegt. Ein Soundscape folgt dem anderen und bereits nach den ersten Takten ist man bereit, sich von Hart überall hin mitnehmen zu lassen. Getreu seiner Fusions-Idee fällt eine Zuordnung der überflogenen Landschaften schwer: In You Remind Me mit Avey Tare hören wir eine Erhu – ein chinesisches Saiteninstrument, das mit einem Bogen gespielt wird – gemeinsam mit afrikanischen Drums und einem elektronischen Beat. In Wine Wine Wine geben sich unter anderem ein Saxofon und fröhlich klimpernde Marimbas gegenseitig den Einsatz, getragen von einem bluesigen Working-Song. Modern sollte es klingen, sagte Hart. „Ich hab nach dem Neuen gesucht.“ Es ist ihm, dem Archäologen, auf spektakuläre Weise gelungen.
Live hören kann man Harts Experimente leider vorerst nicht, der 74-Jährige tourt derzeit mit Dead & Company, bestehend aus den verbleibenden Grateful Dead-Musikern Bob Weir (Gitarre) und Bill Kreutzmann (ebenfalls Drums) sowie John Mayer an der Gitarre, Oteil Burbridge am Bass und Jeff Chimenti (Keyboards). Aber eines Tages, verspricht Hart, wenn sein “day job“ mit Dead & Co. getan sei, werde er auf Tour gehen. Seinen Fans bleibt bis dahin der auditive Rundflug mit spektakulären Aussichten.