Als das britische Rockmagazin Q R.E.M.s sechstem Album Green fünf Sterne gab, stellte es eine Frage in den Raum: “Are R.E.M. the best band in the world?” Zu dem Zeitpunkt hätte wohl kaum ein echter Rock’n’Roll Fan darauf gewettet, aber als die Band ihre furiose Green-Welttournee beendet hatte, musste es schon heißen: “Werden R.E.M. gerade zur größten Band der Welt?”
Als die Wahnsinnstour im November 1989 endlich ihren Abschluss fand, hatte Green in Nordamerika Doppelplatin erreicht und konnte sich über ähnliche Verkaufszahlen in Kanada, Großbritannien und Australien freuen. Sie hatten ein Majorlabel hinter sich und so hatten sie auch die Möglichkeit und die Mittel, um den weltweiten Markt zu erobern und ihren Erfolg auf ein neues Level zu katapultieren.
Ihre neuen Bosse hofften wahrscheinlich, dass R.E.M. direkt mit Green 2 weitermachen würden, aber die Band war zehn Jahre lang fast ununterbrochen auf Tour gewesen und sah sich seit Erscheinen ihres Debütalbums Murmur in 1983 in einem nicht enden wollenden und tendenziell zerstörerischen Kreislauf aus Album-Tour-Album-Tour gefangen. Daher beschlossen sie, eine Pause einzulegen, bevor sie sich an die Arbeit zum Nachfolger für das umjubelte Green machten. Aber es dauerte nur wenige Monate, bis die Band wieder bereit war, gemeinsam Musik zu machen, die sie einmal mehr um viele Facetten bereichern würde.
R.E.M. siebtes Album Out Of Time wurde wieder von Scott Litt co-produziert und größtenteils in den Bearsville Sound Studios in Woodstock, in Upper State New York aufgenommen. Einige zusätzliche Sessions fanden in John Keanes Studio in Athens statt. Abgemischt wurde das Album in Princes berühmtem Paisley Park Komplex, außerhalb von Minneapolis. Später erzählte Bassist Mike Mills in einem Interview mit Pitchfork, dass die Band ganz heiß darauf war, die experimentierfreudige Stimmung, die schon zu Anfang der Arbeiten an Green deutlich zu spüren gewesen war, weiter auszuloten.
“Schon bei Green, wollte Peter [Buck] etwas Neues ausprobieren und nicht mehr auf die elektrische Gitarre beschränkt sein”, erinnert sich Mills. “Also fing er an, auf ein paar Songs Mandoline zu spielen. Auf Out Of Time wollten wir diesen Weg weitergehen. Jeder sollte unterschiedliche Instrumente spielen, um ein bisschen Abwechslung reinzubringen.”
Berichten zufolge war das Mandolinenriff, das Buck für die erste Single des Albums komponierte ein Zufallsprodukt und entstand, als er fernsah und nebenbei auf der Mandoline klampfte. Das mag so gewesen sein oder auch nicht – auf jeden Fall wurde es bald Teil des bekanntesten R.E.M. Songs. Bei seiner Veröffentlichung im Februar 1991 schoss Losing My Religion sofort auf Platz 4 der US Billboard Singlecharts und wurde später mit zwei Grammy Awards ausgezeichnet. Der Song machte die Band weit über ihre bestehende Fanbase hinaus bekannt. Egal wo Sie leben, in welchem versteckten Winkel dieder Welt, irgendein lokaler Radiosender spielt ihn wahrscheinlich immer noch in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen.
Losing My Religion wurde im September 1990 im Studio A in Bearsville aufgenommen. Ihr ehemaliger Tourmusiker Peter Holsapple verstärkte Stipe, Buck, Berry und Mills an der Akustikgitarre. Die Von Mark Bingham arrangierten Streicher wurden einen Monat später vom Atlanta Symphony Orchestra eingespielt. Schon bei den ersten Aufnahmen wussten die Band und alle in ihrem unmittelbaren Umfeld, dass sie hier etwas wirklich besonderes vor sich hatten.
“Für mich ist Losing My Religion eine klassische Single”, sagte Studiomanager Ian Kimmett später in einem Pitchfork Interview. “Und ich liebe den Titel. Michael hat mir mal erklärt, dass das ein Ausdruck aus den Südstaaten ist, der Ärger und Frustration ausdrückt. Michael sagte, für ihn ist der Song eine Overtüre zu unerwiderter Liebe.”
Als die Plattenfirma diesen zwar eingängigen, aber insgesamt doch recht folklastigen Song als erste Single von Out Of Time präsentiert bekam, waren sie zunächst skeptisch. Immerhin stürzten sich die jungen Musikfans zu der Zeit wie wild auf britische Indie-Dance Crossover Bands wie die Stone Roses und in Seattle stand die Grunge Szene kurz vor dem großen Durchbruch. Aber als sie endlich nachgaben und Losing My Religion in die Läden kam, kletterte die Single weltweit in den Charts nach oben und öffnete die Tür für Out Of Time, welches im März 1991 folgte.
Der Albumtitel schien passend: Zwar war Out Of Time als R.E.M. Album zu erkennen, es entfernte sich aber auch ein Stück weit von ihrem bekannten Muster aus Gitarre, Bass und Schlagzeug. Das melancholische Half A World Away strotzte von ungewöhnlichen Strukturen mit Streichern und Cembalo, die für eine gewisse Leichtigkeit sorgten. Pedal Steel und Bucks langanhaltendes Gitarrenfeedback bilden den Rahmen für das faszinierende, melancholische Country Feedback. Auf einigen Songs, wie z. B. dem übermütig daherkommenden Folk Country Duett Me In Honey, singt Kate Pierson von den B-52s.
Die einzelnen Bandmitglieder genossen es, ihre Komfortzonen zu verlassen: Mills spielte Orgel auf dem zurückhaltenden, Trauerlied-artigen Low und dem ungewöhnlich funkigen Radio Song (auf dem Stipe sich auch einen Battle mit Gastsänger, bzw. -rapper, KRS-One liefert), und Berry verlässt sein Schlagzeug für zwei Songs und spielt stattdessen Bass auf ‘Half A World Away’ und ‘Country Feedback’.
Nur zwei Songs – das erfrischende, von Mike Mills gesungene Near Wild Heaven und Shiny Happy People, erinnern stark an den alten Schrammelpop von damals. Da überrascht es vielleicht nicht so sehr, dass beide als Singles ausgekoppelt wurden. Near Wild Heaven landete in Großbritannien auf Platz 27 der Charts und das unwiderstehliche Shiny Happy People (geprägt durch Kate Piersons Gesang) wurde ihr zweiter gigantischer, transatlantischer Hit, mit Top 10-Platzierungen sowohl in den Vereinigten Staaten als auch Großbritannien.
Out Of Time ist ein vielseitiges, aber grundsätzlich doch recht nachdenkliches Album. Dennoch überzeugte es die Kritiker sofort. Viele der meinungsbildenden Musikmagazine überhäuften die Platte mit Fünf-Sterne-Bewertungen. In seiner begeisterten Kritik im Rolling Stone erklärte Parke Puterbaugh ganz richtig: “Diese Band hat keine Landkarte dabei, und dass man nicht weiß, was hinter der nächsten Kurve kommt, macht die Reise mit R.E.M. so unterhaltsam und spannend.”
Die positiven Kritiken und der zusätzliche Fahrtwind von Losing My Religion schlug sich bald in Verkaufszahlen nieder und mit 4,5 Mio. verkauften Exemplaren alleine in den USA übertraf Out Of Time alle Erwartungen. Das Album führte die Charts auf beiden Seiten des Atlantiks an und verkaufte sich ununterbrochen weiter. Es blieb beachtliche 109 Wochen in den US Billboard 200 und wurde auch in Ländern wie Australien, Deutschland und den Niederlanden mit Platinawards überhäuft. Mittlerweile wurden weltweit mehr als 18 Mio. Exemplare verkauft.
Da sie von der zwölfmonatigen Promotour zu Green ziemlich erschöpft waren, auch wenn diese einem Triumphzug glich, beschlossen R.E.M., mit Out Of Time nicht auf Tour zu gehen. Sie spielten nur ein paar ausgewählte Shows, wie z. B. den legendären Auftritt bei MTV Unplugged, der wahre Begeisterungsstürme auslöste. Außerdem gestalteten sie sehr sehenswerte und nachdenkliche Promofilme für neun der elf Albumtracks, die sie auf dem Video This Film Is On veröffentlichten.
Schaut euch hier das offizielle Musikvideo zu R.E.M.s Losing My Religion an:
Das Video zu Losing My Religion wurde von dem indisch-amerikanischen Regisseur Tarsem Singh gedreht – mit zusätzlichem Input von Michael Stipe. Inspiriert war sein Look von dem italienischen Maler Caravaggio und religiöser Malerei wie z. B. Saint Sebastian und Hindu-Gottheiten. Das Video wurde 1992 mit zwei Grammy Awards ausgezeichnet. Im selben Jahr wurde Out Of Time als Bestes Alternative Music Album gewürdigt.
Out Of Time war der Lohn für R.E.M.s harte Arbeit und Durchhaltevermögen. Es war ein musikalischer Meilenstein, der zeigte, das Alternative Bands den Sprung in den Mainstream schaffen konnten, ohne ihre Authentizität aufzugeben. Vielleicht war es sogar der Vorreiter und Türöffner für viele Alternative Rock Stars Mitte der 90er: Green Day und Smashing Pumpkins in den USA, Blur und Oasis in Großbritannien, usw.
Out Of Time ist immer noch ein lohnenswertes und berührendes Album. Gerade erscheint eine 25th Anniversary Super Deluxe Edition des Albums mit bisher unveröffentlichten Demos und einem selten gehörten Livemitschnitt einer exklusiven Show in Mountain Stage, Charleston, West Virginia, von 1991. Mitch Easter, der erste Produzent der Band, sagte Anfang des Jahres in einem Pitchfork Interview sogar, dass R.E.M. hier wahrscheinlich auf dem Höhepunkt ihres kreativen Schaffens waren.
“Sie hatten sich extrem weiterentwickelt, seit unserem ersten Treffen Anfang der 80er. Ihr Aufstieg schien unaufhaltsam”, sagte er. “Wenn man sich Out Of Time heute anhört, kann man sich dieser Tatsache kaum entziehen. Es ist ein extrem starkes Album, nicht nur eine Ansammlung von Hits, wie es damals vielleicht schien. Es ist ein Liederzyklus und man spürt, dass sie sich wohl fühlten mit ihrer Musik.”