Am 18. Mai 2017 verliert die Welt Chris Cornell. Rund zwei Jahre zuvor, am 18. September 2015, erscheint sein letztes Studioalbum Higher Truth. Es ist eine brillante letzte Verbeugung vor dem Sound, der ihn geprägt hat – Blues, Americana und Folk.
Am 17. Mai 2017 spielt Chris Cornell ein Soundgarden-Konzert in Detroit. Die Menschen im Fox Theatre wissen noch nicht, dass sie (oder der Rest der Welt) das letzte Mal in den Genuss kommen, ihn Songs wie Black Hole Sun singen zu hören. Am nächsten Morgen ist er tot. Suizid durch Erhängen.
Die Videos von dem Aufritt, sonst nur Handy-Souvenirs unter unzähligen anderen, bekommen über Nacht eine gespenstische Note: Hier ist Chris Cornell noch zu sehen, wenige Stunden später wird er sich das Leben genommen haben. Benimmt er sich seltsam? Weiß er es zu diesem Zeitpunkt schon?
Chris Cornell zieht Bilanz
Fest steht: Cornell hatte Zeit seines Lebens mit Depressionen und Angstzuständen zu kämpfen. Und schien in den Jahren vor seinem Tod dennoch einigermaßen gut mit dem Leben klarzukommen. Die Soundgarden-Reunion ist ein großer Erfolg, als Solokünstler ist er arriviert, respektiert, ist politisch aktiv und spielte auf Barack Obamas Einführungsball.
Am 18. September 2015 erscheint mit Higher Truth sein letztes Studioalbum. Und mit dem Wissen von heute erscheint es durchaus als plausibel, in dem reifen, melancholischen, zeitlosen Acoustic-Rock-Werk so etwas wie eine Kulmination seines Schaffens zu sehen. Ein letztes Album, auf dem er alles sagt, was es noch zu sagen gibt. Bilanz zieht. Besonders deutlich wird das im tragischen Lovesong Before We Disappear, in dem er singt:
We will live forever
But I fear
That time can hide the years
Like we were never here
So hold on tightly my dear
Before we disappear
Beeinflusst von Nick Drake und Bruce Springsteen
Ein intimes, warmes, in sich gekehrtes Album will Chris Cornell schreiben, eines, das seine Liebe zu Blues und Americana mehr nach außen trägt als zuletzt. Zu Künstlern wie Bruce Springsteen oder Nick Drake, die ihm schon in den späten Achtzigern mehr bedeuten als diese ganze schrille, harte Rockzeugs, das zu dieser Zeit die Popkultur beherrscht. „Alle Bands, mit denen wir auf Tour waren, waren super laut und aggressiv, mit Tattoos am Hals, schwarzen Sweatshirts, schwarzen Jogginghosen und schwarzen Sneakers“, so sagte Chris Cornell mal. Damals entdeckte ich Daniel Johnstons Songs of Pain. Ich hörte es mir immer und immer wieder im Tourbus an und begann mich dann für Bruce Springsteens Nebraska und Nick Drakes Pink Moon zu interessieren. Das war eine großartige Abwechslung.“
In Soundgarden konnte er diese Seite nie ausleben, also wendet er sich nach dem legendären Flop seines dritten Soloalbums Scream endlich dieser Seite zu, die immer schon in ihm schlummerte. Getragen von einer Reihe an Akustikshows, bei denen er auch Material von Soundgarden oder Temple of the Dog unplugged spielt, entstehen ruhige, in sich gekehrte Lieder, die sich nahtlos einfügen in dieses große American Songbook, von dem alle immer sprechen. Mit hochgekrempelten Ärmeln, dem Herz auf der Zunge und reichlich Variation an Akustikgitarren und Streichern singt sich Chris Cornell durch seine eigene Seelenlandschaft, getragen von seiner unglaublichen, gezeichneten Vier-Oktaven-Stimme. Da kommt endlich zusammen, was zusammengehört.
Chris Cornell auf Vinyl gibt's hier:
Wie damals Johnny Cash und Rick Rubin
Higher Truth, sein erstes Solo-Studioalbum seit sechs Jahren, findet tänzelnd und federleicht zu der sanften Erhabenheit seines grandiosen Solodebüts Euphoria Morning zurück. Nur eben rein akustisch. Produzent Brendan O’Brien (der spielte schon Orgel mit Bob Dylan und war mit Neil Young auf Tour) verdient Anerkennung dafür, dass er einen Sound geschaffen hat, der zum Stil des Sängers passt, indem er alles Überflüssige entfernt und seiner Stimme einen offenen Raum gegeben hat, in dem sie sich entfalten kann. Durchaus eine Art Johnny Cash/Rick Rubin-Traumkonstellation.
Die Frage bleibt aber: Wie geht es Chris Cornell zum Zeitpunkt der Aufnahmen? Denkt er damals schon über Suizid nach? Er ist clean, seit einigen Jahren schon, hatte Frau und Kinder. Dennoch fällt auf, dass sich die meisten Stücke auf Higher Truth mit dem Vergehen der Zeit, sei es in Bezug auf das Wetter, die Jahreszeiten oder das metronomische Ticken einer Uhr. Ein Album, das uns schmerzlich klarmacht, wie schnell unsere Stunden vergehen. Durch das, was ihm knapp zwei Jahre später widerfahren wird, hat sein letztes Album etwas von einer düsteren Vorsehung, von der grausigen Prophezeiung eines Orakels.
Wenn du selbst depressiv bist oder Selbstmordgedanken hast, kontaktiere bitte umgehend die Telefonseelsorge (www.telefonseelsorge.de).
Unter der kostenlosen Hotline 0800-1110111 oder 0800-1110222 erhältst du Hilfe von Beratern, die dir Auswege aus schwierigen Situationen aufzeigen können.