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Foto: Paul Natkin/Getty Images

Wo Liebe und Gewalt sich gute Nacht sagen: 40 Jahre „Meat Is Murder“ von The Smiths

Heute vor 40 Jahren bewiesen die Smiths mit ihrem Zweitwerk Meat Is Murder, dass sie die Zukunft der Indie-Musik waren. Düsterer, ironischer und noch innovativer als zuvor.

„Make War Not Love“ stand ursprünglich auf dem Helm des US-Soldaten Marine Corporal Michael Wynn. Das berühmte Bild von Wynn stammt aus der Vietnamkriegs-Doku In The Year Of The Pig von Emile de Antonio. Im Jahr 1985 wurde es aber mit einer anderen Aufschrift auf dem Helm bekannt – ohne Wynns Erlaubnis, wie er später in einem Online-Forum kommentierte: „Ich hörte zum ersten Mal davon, als meine Schwester das Album beim Shoppen sah.“ Die Übeltäter: The Smiths. Die Aufschrift: „Meat Is Murder“.

Ernste Statements

Provokanter Albumtitel. Damit wollten The Smiths schließlich auch eine Reaktion erzielen. Der Titeltrack ist eine Anschuldigung an alle, die ihren Fleischkonsum nicht reflektieren: „It’s death for no reason / And death for no reason is murder“ – dazu ertönen Tiergeräusche, industrielle Maschinen und ein trauriger Walzer. Dieser Song spaltet noch immer die Fanbase: Manche halten ihn für überdramatisch und belehrend, andere schrieben in Briefen an Morrissey, dass Meat Is Murder ihnen die Augen geöffnet habe und sie sich ab nun vegetarisch ernährten.

In jedem Fall beweist es, dass die Band – auch wenn die Musik nicht so klingt – einen Punk-Spirit verfolgte. Im Making-of-Video zum Album sagt Morrissey: 

„Wir sind der Ansicht, dass populäre Musik genutzt werden sollte, um ernste Statements zu setzen. So viele Bands verkaufen Massen an Platten, aber steigern das Bewusstsein der Leute in keinerlei Richtung. Wir finden das, vor allem in diesen ernsten Zeiten, ziemlich sündhaft.“

Morrissey

Die Tradition der Gewalt

Insofern ist das zweite Album der Band eine thematische Weiterentwicklung. Natürlich geht es nicht in allen Songs um Fleischkonsum – tatsächlich nur in diesem einen –, aber Gewalt scheint der verknüpfende Punkt der Songs zu sein. Schon im Albumcover treffen der Schriftzug und das Bild aufeinander, sodass Krieg mit Massentierhaltung verglichen wird. The Headmaster Ritual und Barbarism Begins At Home setzen sich mit der Tradition von Gewalt an Kindern aus, egal ob in der Schule oder im Elternhaus. That Joke Isn’t Funny Anymore hinterfragt Mobbing und das Verharmlosen von Mental-Health-Problemen.

Dann gibt es Liebessongs, die die Brutalität und Gewalt der eigenen Gefühle und des gegenseitigen Verletzens verdammen. Und in Rusholme Ruffians treffen beide Welten – Liebe und Gewalt – aufeinander, als gleichberechtigte, selbstverständliche Teile des jugendlichen Lebens. „Im Song geht es darum, zu einem Jahrmarkt zu gehen und erstochen zu werden. Jahrmärkte in Manchester sind sehr gewalttätig. Es sind Veranstaltungen, bei denen eine Gemeinschaft für Spaß und Vergnügen zusammenkommt, aber am Ende wird immer irgendwer erstochen – was es natürlich aufregender macht“, erklärt Morrissey schmunzelnd im Making-of. Ein klassisches Beispiel seines Humors. „And someone falls in love / And someone's beaten up“, singt er vergnüglich über ein tanzbares Rockabilly-Instrumental.


Morrissey stellt auf Meat Is Murder seinen Charakter unter Beweis. „Wenn Leute sagen: ‚Morrissey ist immer so unglücklich‘, ist das für mich schlicht fauler Journalismus. Das ist so eine oberflächliche Meinung“, so der Sänger selbst. Denn textlich und gesanglich kann es schnell mal etwas pathetisch und melodramatisch zugehen – aber mit voller Absicht. Das ist Teil der Ironie; ernste Themen werden mit fröhlichen Melodien und absurden Bildern kontrastiert. Die verzweifelten Emotionen in Well I Wonder oder That Joke Isn’t Funny Anymore kommen trotzdem treffend und ehrlich herüber.

Erweiterung des Smiths-Sounds

Meat Is Murder hat aber, mehr als wahrscheinlich jede andere The-Smiths-Platte, ein Spotlight für jedes Bandmitglied. Barbarism Begins At Home wird von einer unwiderstehlichen Bassline getragen, die am Ende noch für mehrere Minuten durchgejammt wird – ganz ohne Morrissey. Ein Moment, der beweist, wie stark ihr Gespür für Rhythmus immer war und wie gut sich Bassist Andy Rourke und Drummer Mike Joyce aufeinander abstimmen. Für Rourke war es einige Möglichkeit, seine Liebe für Funk in den Sound der Smiths einzubringen.

Und dass Johnny Marr einer der innovativsten Gitarristen aller Zeiten ist, sollte bekannt sein. Schon auf dem Debüt definierte er den Jangle-Pop-Sound. Das zweite Album zeigt Marr jedoch beim Erforschen der Grenzen dessen, wie eine Gitarre klingen kann. Über die tanzbaren Rhythmen legen sich manchmal schwirrende Gitarrenloops wie am Ende von That Joke Isn’t Funny Anymore. Mehr Textur als Riff, mehr Raum und Atmosphäre. Ein Ansatz, der die Basis für das ganze Shoegaze-Genre bildet. Marrs brillantestes Beispiel dafür, How Soon Is Now? ist zweifelsohne einer der besten Smiths-Songs überhaupt. Er ist aber kein offizieller Teil des Albums und wurde nur auf manchen US-Versionen von Meat Is Murder in die Tracklist gequetscht.

Mitte der 80er offen die Fleischindustrie anklagen, auch wenn man dafür bei einer Show in Stokes mit Würstchen beworfen wird: Eine bemerkenswerte Attitüde. Schön wäre es, wenn Morrissey diese Kühnheit immer noch für gute Werte nutzen würde und nicht für rassistischen Nonsens. Das Wissen darum schmerzt manchmal ein wenig beim Wiederentdecken der alten Smiths-Schätze. Dass Meat Is Murder ein musikalisches und lyrisches Statement sowie ein eindrucksvoller Entwicklungsschritt war, gilt aber auch 40 Jahre später.

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