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Foto: Archivio Cicconi/Getty Images

Adriano Celentano: Stammt der erste Rap-Song der Welt aus Italien?

Kann es sein, dass Rap gar nicht in den USA erfunden wurde, sondern Anfang der 1970er-Jahre in Italien? Ein unaussprechlicher Song von Italo-Ikone Adriano Celentano legt das nahe. Wir spüren der Sache nach.

von Michael Döringer

Die ersten MCs

In der jüngeren Musikgeschichte gibt es eigentlich kaum unerforschte Felder. Fast alles ist gut dokumentiert. Man kennt die Heimat des Blues und weiß, wo sich Disco zu Dance Music weiterentwickelte. Der Geburtsort von Hip-Hop liegt fraglos in der südlichen Bronx in New York City. Dort entstand der Sound, der immer schon auf Versatzstücken anderer Musik beruhte. Zwei Plattenspieler, zweimal dieselbe Schallplatte, ein Backspin – fertig ist der rudimentäre Loop eines Hip-Hop-Beats. Und der MC übernimmt den Rest. Beim Rappen ist die Ursprungsfrage allerdings viel unklarer. Waren die ersten MCs der Bronx auch die Erfinder des Sprechgesangs? Wohl eher nicht.

Vorläufer gab es verschiedene. Zum Beispiel hatten die Reggae- und Dancehall-Deejays auf Jamaika die Kunstform des Toasting geprägt mit der sie auf Partys neue Tunes anmoderierten, über instrumentale Riddims sangen und weiteres Mikrofon-Entertaining lieferten. Es wird oft auch auf diverse afrikanische Traditionen hingewiesen, in denen ein sprechendes Singen praktiziert wurde. Wirklich belegt werden als Rap-Urform kann das aber nicht. Vielleicht beruht die kurze Sprechgesangs-Einlage von Ella Fitzgerald im folgendem Video aus dem Jahr 1942 ja auf solchen traditionellen Einflüssen – vielleicht nutzte sie aber auch einfach nur ihre künstlerische Neigung und Begabung, um zu improvisieren und eine neue Darbietungsform zu erfinden.

Die fleischgewordene Dolce Vita

Doch es gibt sie: handfeste Beweise für den ersten Rap-Song. Und der kommt tatsächlich nicht aus der Bronx, nicht mal aus den USA, sondern aus Italien. Er heißt Prisencolinensinainciusol und stammt von Adriano Celentano, einem der bekanntesten italienischen Sänger und Schauspieler überhaupt, auch bei uns. Hits wie Azzurro machten Celentano in den Sechzigern bei uns zur personifizierten Sehnsucht nach der Dolce Vita. Und der soll Rap erfunden haben, 1972? Seht und hört selbst:

Verrückt an der Sache ist, dass der Song mit seinen funky Bläsern und stoischen Beat tatsächlich an frühen Hip-Hop erinnert. Und Celentano? Tja, der rappt ziemlich eindeutig. Und zwar lange bevor Rapmusik in New York City wirklich einen Namen bekam. Was ist hier los?

Das Kraftwerk-Prinzip

Dass Adriano Celentano das Rappen erfunden hat und die Kids in der Bronx später von ihm abkupferten, ist natürlich Quatsch. So geschah es etwa mit Kraftwerk: Songs wie Trans Europa Express wurden von Hip-Hop-Pionieren wie Afrika Bambaataa gesamplet und zu Stücken wie Planet Rock umgemodelt – klassischem Proto-Hip-Hop bzw. Electro.

Doch Celentano kannte in den USA quasi niemand. Regelmäßig wird das Kuriosum Prisencolinensinainciusol heute von amerikanischen Musikforscher*innen entdeckt. Die bemerken dann immer wieder erstaunt, dass Celentano wohl eine ziemlich große Nummer da drüben in Europa wäre. Die Wahrheit ist: Der Einfluss passierte genau anders herum, als es bei Kraftwerk der Fall war. Celentanos Rap-Song ist der Versuch, amerikanischer Popmusik nachzueifern, sie so direkt wie möglich zu kopieren. Das bemerkt man schnell, wenn man mal auf den Text achtet. Der ergibt nämlich überhaupt keinen Sinn. Klingt zwar amerikanisch, ist aber alles komplett ausgedacht.

Liebeserklärung an die USA

Celentano wollte mit dem Song ausdrücken, wie sehr er selbst von US-amerikanischer Musik beeinflusst war. Vor einigen Jahren begaben sich bereits Kollegen vom US-Radiosender NPR auf die Spuren des Songs – und holten sich Celentano einfach direkt ans Telefon, zusammen mit einem Übersetzer. Das Englisch des Maestros ist auch heute offensichtlich nicht sehr ausgeprägt. „Seit ich mit dem Singen angefangen habe, werde ich von Amerikanern und ihrer Musik beeinflusst“, gestand Celentano. „Ich liebte amerikanischen Slang, denn das war für einen Sänger viel einfacher zu singen als Italienisch. Eines Tages dachte ich deshalb, dass ich einen Song schreiben muss, dessen Thema diese Art Nicht-Kommunikation ist. Um das zu erreichen, musste ich einen Text ohne jede Bedeutung erfinden.“

Glossolalia und Freestyle

Celentano machte aus der Not eine Tugend und dachte sich einen kompletten englischklingenden Text einfach aus, inspiriert von seinen Idolen. Wenn man ehrlich ist, dann klingt sein nöliger Sprechgesang tatsächlich wie so manches Bob-Dylan-Stück. Bis auf das erkennbar gerufene „Alright!“ ist also jedes Wort in diesem Song ausgedacht. „Glossolalia“ nennt man dieses Phänomen, wenn man bewusst oder unbewusst eine fremde Sprache imitiert. Celentano hat keineswegs eine neue Sprache erfunden, er hat den Text nicht mal aufgeschrieben, sondern sich tatsächlich aus dem Stegreif alles ausgedacht, nachdem man zuerst einen einfachen rhythmischen Loop gebastelt hatte. Freestyle-Rap zum Hip-Hop-Beat? Eindeutig. „Ich ging in die Aufnahmekabine des Studios, nahm das Mikrofon und begann zu improvisieren. Ich dachte mir die Melodie aus. Dann holten wir das Orchester dazu und bauten die Arrangements darauf auf.“

Instinkt für globale Popkultur

Auch in dieser Hinsicht ist das Vorgehen Celentanos für die damalige Zeit regelrecht revolutionär. Dass am Ende dabei ein Popsong entstand, der über die Landesgrenzen hinaus zum Hit wurde, spricht nicht nur für seinen musikalischen und künstlerischen Instinkt, sondern für ein Verständnis von globaler Kultur. Das Experiment ging auf: Niemand verstand den Song, niemand konnte ihn überhaupt verstehen. Doch jeder wusste, was gemeint war und spürte den kulturellen Kontext, den Celentano abrief. Die meisten waren in ihrer Unwissenheit wohl felsenfest überzeugt, der Text sei echtes Englisch. Und diese komische Art zu singen? Das war wohl wieder ein verrückter neuer Trend bei den Amis. Das stimmte ja auch. Nur wussten das die Amis selbst noch nicht. Zur selben Zeit, als Celentano mit Prisencolinensinainciusol die europäischen Charts stürmte, probierten sich wohl in New York schon die ersten Kids in dieser neuen Art zu singen aus, und niemand ahnte etwas vom anderen. Ein schönes Beispiel für parallele Stränge der Musikgeschichte, die eigentlich nichts miteinander zu tun haben, und sich später – wie in diesem Text – doch irgendwie kreuzen.