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Foto: Thomas Niedermueller/Redferns/GettyImages

Wind Of Change: Wie sich mit „Crazy World“ alles für die Scorpions änderte

Kapitelende und Wiedergeburt in einem: Das elfte Studioalbum veränderte alles für die Scorpions. Ohne den Erfolg von Crazy World hätten die Hannoveraner das neue Jahrtausend sehr wahrscheinlich nicht mehr erlebt. Ob’s an Wind Of Change liegt?

von Björn Springorum

Hört hier in Crazy World von Scorpions rein

Ende der Achtziger sind die Scorpions auf Sinnsuche. Die vergangenen zehn Jahre brachte die Band aus Hannover damit, zur erfolgreichsten deutschen Rock-Band der Welt aufzusteigen. Von Lovedrive (1979) bis Savage Amusement (1988) gelingt ihnen schlichtweg alles, was sie sich vornehmen. Es sind die legendären Jahre des klassischen Line-Ups aus Klaus Meine, Rudolf Schenker, Matthias Jabs, Francis Buchholz und Herman Rarebell, für viele bis heute die ultimative Scorps-Inkarnation. Es ist zugleich die Ära des Produzenten Dieter Dierks, den man damals als sechsten Scorpion bezeichnen konnte.

Dieter Dierks prägt den Sound der Scorpions und er trägt großen Anteil daran, dass die Band diese Größe erreichte. Verdeutlicht wird das exemplarisch durch den Erfolg seiner letzten Produzententätigkeit Savage Amusement. Obschon von Konflikten und Spannungen zwischen Band und Dierks geprägt, wird die Platte zum Welterfolg. Platin in den USA. Als zweite westliche Rock-Band nach Uriah Heep zehn Konzerte im Sport-und-Konzert-Komplex im damaligen Leningrad (heute Sankt Petersburg). Die Monsters Of Rock Tour 1988 mit Metallica und Van Halen, bei der Metallica wohlgemerkt vor den Scorpions spielten. Drei Konzerte hintereinander im Londoner Hammersmith Odeon. Die Band ist auf einem Zenit angekommen. Oder anders: Die Band erreichte einen Zenit, den bei einer deutschen Band niemand für möglich gehalten hätte.


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Fünf Hannoveraner in Los Angeles

Die Gretchenfrage lautet also: Wie zum Teufel knüpft man an einen solchen Erfolg an? Gar nicht. Man geht einfach neue Wege und stellt alle früheren Triumphe einfach mal in den Schatten. Der Trennung von Dierks folgt im Sommer 1990 ein Umzug ins sonnige Los Angeles, wo die Scorpions ihr erstes Album im Ausland aufnehmen. Tatort sind die Goodnight L.A. Studios von Keith Olsen (Whitesnake, Foreigner Ozzy Osbourne), weil ihr Wunschproduzent Bruce Fairbairn (Bon Jovi, Def Leppard) keine Zeit hat und erst ihr nächstes Album Face The Heat verantworten kann. Schlimm ist das nicht: Weil sich Olsen reichlich am Denglisch der Hannover Rocker stört, sperrt er sie kurzerhand mit Komponist Jim Vallance ein. Der poliert ihr Englisch auf und ist nebenher mitverantwortlich für Tease Me Please Me, Don’t Believe Her und Kicks After Six.

Horizonterweiterung nennt man das dann wohl, denn was nach der Veröffentlichung der Scheibe im November 1990 passiert, ist Stoff für die Geschichtsbücher: Doppelplatin in gleich mehreren Ländern, über 14 Millionen verkaufte Einheiten.

Mit anderen Worten: Komplett verrückt! Hinter dem Albumtitel steckt ein George H. W. Bush-Zitat, hinter Wind Of Change die Hymne zur Wiedervereinigung und zum Fall des Eisernen Vorhangs. Sorry, David Hasselhoff! Kleine Rock-Kunde am Rande: Klaus Meine wurde nicht etwa durch die Berliner Mauer, sondern durch seine Erlebnisse während ihrer Auftritte in Russland zu dem Gepfeife inspiriert. Es ist aber nicht nur die meistverkaufte deutsche Single aller Zeiten; es ist zugleich ihr Ticket in den Kreml, wo sie Michail Gorbatschow wenige Tage vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion empfängt. Bis heute nicht ganz unkritisch.

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Berechtigter Mega-Seller?

Erfolgreich ist das Album also. Aber das auch berechtigt? Durchaus: Crazy World mag mit Wind Of Change und Send Me An Angel zwei lupenreine Balladen enthalten, die für viele die Kitsch-Grenze deutlich überschreiten. Allgemein zeigt das Album aber eine willkommene Rückkehr zum kernigen, druckvollen und dunklen Hard Rock früherer Tage – bei gleichzeitig deutlich voluminöserer und satterer Produktion. Money And Fame als schleppender, schwerer Brecher, ein geradliniger Rocker wie Kicks After Six, ein epischer Stadionrocker wie To Be With You In Heaven oder das sehr amerikanisch geprägte Titelstück vermählen gestandenes Hard-Rock-Futter mit Mainstream-Appeal. So erfolgreich werden die Scorpions nie wieder sein. So harmonisch vereint auch nicht: Das Album ist zugleich Ein mehr als würdiges Ende für ihren Bassisten Francis Buchholz, der nach den Tourneen zu Crazy World aussteigt.

Das Album mag heute nicht jedem schmecken, auch die Scorps selbst spielten in den folgenden Jahren überraschend wenige Songs aus diesem Megaerfolg live. Es war dennoch ein Höhepunkt, der nie wieder erreicht werden sollte. Das macht schon der Nachfolger Face The Heat von 1993 deutlich, der weit hinter den Erwartungen zurückblieb. Die übrigen Neunziger ebenso, gipfelnd im schwierigen Elektro-Rock-Album Eye II Eye, das mit Du bist du schmutzig den einzigen deutschen Song der Band enthielt. Also, Klaus, das überlassen wir dann doch lieber Till Lindemann.